WETTSCHWIMMEN MIT DEM TODE

 

Der Wolkenbruch war zu einem Gewitter geworden. Grelle Blitze zuckten mit fürchterlichem Donnergetöse nieder, und als ein langer Blitz aufflammte, sah ich, daßich mich mitten in einer kleinen Ortschaft zwischen niedrigen Bauernhäusern befand. Im nächsten Augenblick war es aber schon wieder so dunkel, daßnichts mehr zu sehen war.

Nicht weit von mir toste die Rhöne, und jenseits sah ich jetzt häufiger Häuser, vor denen elektrische Lampen brannten. Nach meiner Karte mußte dort unten auch eine Brücke sein, die sicher scharf bewacht wurde. Im Aufleuchten eines Blitzes sah ich sie dann auch ——ein dunkler Bogen, der sich über den Flußspannte.

über harte Felsen kletterte ich zum Ufer hinunter und tastete mich am Wasser entlang weiter, bis ich eine Stelle fand, wo dichtes Gestrüpp ganz an die Rhöne herantrat. Der Flußmachte an dieser Stelle einen Bogen. Ich ging noch 50 Schritte flußaufwärts. So ... hier wollte ich hinüber. Da drüben mußte die Schweiz sein.

Nun zog ich mich aus. Meine Kleider waren so naß, daßsie auch im Wasser nicht noch nässer werden konnten. Ich wand sie aus,

schnürte sie zu einem Bündel, das ich mir mit der Wickelgamasche so auf den Kopf band, daßich es gegebenenfalls herunterreißen konnte. Meine Schuhe band ich um den Hals. Was ich nicht mehr brauchen konnte, die Schokolade und meine Gurkenflasche, packte ich fein säuberlich in der Khakihose zusammen und versteckte das Bündel in dem Felsen.

Als ich meine Vorbereitungen beendet hatte, wollte ich zunächst einmal probieren, ob ich mit meinem hohen und auch ziemlich schweren Kopfputz überhaupt schwimmen konnte. Ich stieg in das eiskalte Wasser hinein, aber plötzlich verlor ich den Grund unter den Füßen und mußte schwimmen, ob ich wollte oder nicht. Die Strömung hatte mich gepackt, und ehe ich es mich versah, war ich schon so weit vom Ufer weg, daßich nur noch mit größter Anstrengung die französische Seite wieder erreicht hätte.

Mit unerhörter Wucht rißes mich in den wilden Strom hinaus, und da ich die Generalprobe nun schon bestanden hatte, wandte ich mich, ohne noch einmal zurückzukehren, gleich der Schweizer Seite zu. Die Strömung trieb mich rasend schnell stromabwärts. Tief drückte das schwere Bündel meinen Kopf ins Wasser hinein, die Wellen schlugen mir ins Gesicht, ich bekam überhaupt keine Luft mehr und schluckte entsetzlich viel Wasser ...

In diesen kritischen Sekunden, als mich meine Kräfte schon zu verlassen begannen, und ich bereits alle Hoffnungen aufgegeben hatte, das andere Ufer überhaupt noch zu erreichen, rißich mir mit einem Ruck das verdammte Kleiderbündel vom Kopfe, bekam wieder Luft und konnte unter Aufbietung meiner letzten Kräfte weiterschwimmen. Das Bündel hatte ich nicht losgelassen, sondern hielt es krampfhaft in der linken Hand, während ich mit der rechten gegen die Wellen ankämpfte.

Da stießen meine Füße hart auf. Es tat sehr weh, aber ich krallte mich fest an den Steinen, legte den Kopf auf die nur wenig über den Wasserspiegel hinausragenden Felsen und blieb —unfähig, mich an das Ufer zu schleppen —völlig erschöpft ein paar Minuten in dem eiskalten Wasser liegen.

Dann erst raffte ich mich auf und kroch ans Ufer. Auf der Böschung ruhte ich mich eine Weile aus. Noch einmal mußte ich eine kleine Wasserfläche überwinden. Ein toter Arm der Rhöne ... schnell durchschwamm ich ihn und war dann richtig am jenseitigen Ufer.

Das reißende Wasser hatte mich so weit abgetrieben, daßich jetzt ganz genau die Brücke erkennen konnte.

In einem kleinen Wäldchen zog ich mich langsam an. Ein Teil meiner Sachen war verlorengegangen. Ich besaßnur noch den Rock, die Hose und meine Stiefel. Pudelnaßgelangte ich auf eine Straße und fand wenige Schritte weiter eine Ortstafel, auf der Chancy stand. Das mußte also die Schweiz sein, und ich hatte richtig denjenigen Ort erreicht, den ich mir auf meiner kleinen Karte zum überschreiten der Grenze ausgesucht hatte.

Aber noch war ich meiner Sache nicht ganz sicher. Jetzt, nachdem ich den endgültigen Sieg vielleicht schon erkämpft hatte, mußte ich ganz besonders Vorsicht walten lassen, denn auch nach meinem Abschußwar ich durch einen dummen Zufall, obschon ich mich den Franzosen bereits entkommen wähnte, doch noch in Gefangenschaft geraten.

Wie leicht war es möglich, daßdie Nachkriegswirren Veränderungen auf der Landkarte gebracht hatten, von denen wir Kriegsgefangene nichts erfuhren. Und dann, —wenn ich auch in der Schweiz war, es war ja doch die französische, in der ich immer noch Gefahr lief, so nahe der Grenze von ein paar gutgesinnten französischen Leuten gepackt und zur nächsten Gendarmeriestation geschleppt zu werden.

Sehr vorsichtig arbeitete ich mich an das Gebäude heran, vor dem jene rote Lampe hing, die ich schon von der anderen Seite aus gesehen hatte. Als ich durch das Fenster ins Zimmer blickte, sah ich an den Wänden lauter französische Plakate und Verordnungen hängen, und wieder stiegen in mir Zweifel auf, ob ich mich auch wirklich auf Schweizer Boden befand.

Nicht weit entfernt war eine Wirtschaft. Drin brannte düsteres Licht, und ich sah an einem Tisch zwei Männer ins Gespräch vertieft.

Vielleicht der Wirt und ein Arbeiter, die beim abendlichen Schoppen zusammensaßen. Hier wollte ich mein Glück versuchen. Ich trat in die Gaststube und sicherte mir zunächst den Rückweg. Dann erst trat ich auf die beiden Leute zu und fragte sie:

„C'est la France ici ?" Wenn ich mich 'nämlich noch in Frankreich befand, so war es weniger auffällig, diese Frage zu stellen. Die Leute sahen mich sehr erstaunt an, denn aus meinen Kleidern lief das Wasser in Strömen und bildete kleine Seen zu meinen Füßen. „Mais non, c'est la Suisse, Monsieur", lautete die Antwort. Ich tat sehr enttäuscht und fragte noch einmal, ob hier nicht doch französischer Boden sei. Aber die beiden Männer schüttelten die Köpfe und sagten, Frankreich sei auf dem anderen Flußufer.

Jetzt erst hatte ich also Gewißheit. Und nun entrangen sich mir die Worte: „Dann bin ich frei!" Was darin für mich lag, mußten die beiden wohl auch gefühlt haben. Sie zogen die Augenbrauen hoch und fragten: „Ja, sind Sie Dütscher ?" Ich bejahte. Ein Wort gab das andere, und ich erzählte, daßich von drüben gekommen war.

„über die Bruck ?" Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich sei geschwommen. Aber das wollten sie mir nicht glauben, denn sie wußten, wie reißend an jenem Abend die Rhöne war.

Es waren gute Kerle, die mir gleich von ihrem Wein gaben. Ich trank einen Schluck, der mir wie Feuer durch die Kehle rann, und in mir stieg ein unbeschreibliches Glücksgefühl auf. Vergessen waren die Strapazen der langen Flucht, vorbei die Erschöpfung, die dem Kampf mit dem reißenden Strome gefolgt war. Der Sieg war erfochten. Denen dort drüben hatte ich nun doch ein Schnippchen geschlagen, brauchte nun nicht als Gefangener zu warten, bis man mich gnädig wieder in die Heimat zurücktransportierte.

Ich hatte mir meine Freiheit erkämpft!

Obwohl die beiden Männer ganz ungefährlich schienen, fürchtete ich doch, daßsich meine geglückte Flucht im Dorfe herumsprechen könnte. Wie leicht konnten sich da ein paar Schweinehunde finden, die mit den Franzosen unter einer Decke steckten und mich noch um den Lohn meines Kampfes brachten.

Es erschien mir sicherer, mich unter den Schutz der Behörde zu begeben. Ich fragte die beiden, wo die nächste Gendarmeriestation sei. Sie zeigten mir das Haus mit der roten Lampe, und ich beschloß, dorthin zu gehen, um mich offiziell bei den Schweizer Behörden zu melden. Wenn man mich dann noch nach Frankreich hinüberstieß, so war dies ein Bruch des Völkerrechts. Die beiden Männer wollten mich zwar begleiten, aber ich verzichtete gern, und da es immer noch fürchterlich regnete, ließen sie mich auch allein wandern.

Lange mußte ich an die Tür der Gendarmeriestation pochen. Schlurfende Schritte —einer der beiden Gendarmen, die hier wohnten, öffnete mir und ließmich ein. Ich erzählte ihm meine Geschichte. Er zog mich in seine Privaträume, seine Frau brachte mir ein frisches Hemd und eine Hose von ihrem Mann, während meine Sachen zum Trocknen aufgehängt wurden. Die Frage, ob ich Hunger hätte, brauchte ich gar nicht erst zu bejahen. Ich bekam ein herrliches Essen: Corned beef aus Büchsen und Brot und Butter, soviel ich haben mochte. Ich aßund berichtete den netten Leuten von meinen Abenteuern.

Als wir uns zur Ruhe begeben wollten, brachte mich der Brigadier, der mir entweder nicht traute oder kein anderes Gastzimmer besaß, in den Keller und öffnete eine dicke Tür. Es war das Arrestlokal, in dem die unsicheren Kantonisten eingesperrt wurden. Dort stand eine Pritsche, auf der vier Decken lagen. Dieses Lager wies er mir für die Nacht an und erklärte, daßer leider über keine andere Liegestatt verfügte.

Die Tür klappte zu, und der Riegel kreischte im Schloß. Noch einmal war ich also Gefangener. Aber es war ein schöner Raum, sauber geweißt, und im Vergleich zu den französischen Gefängnissen, durch die man mich geschleift hatte, ein wahrer Salon. Ich lachte und freute mich; ich hatte frische Wäsche an, lag wie ein Prinz in meinen weichen Decken und war rasch entschlummert.

Mitten in der Nacht wachte ich auf, rieb mir lange die Augen und überlegte, was eigentlich los war. Hatte ich nur geträumt, saßich noch in Montoire oder gar in einem Gefängnis ? Als ich dann aber die Decken sah und die Lampe, da freute ich mich unbändig und merkte erst jetzt, daßich fürchterlichen Durst hatte. Neben meiner Pritsche stand ein sauberer Krug mit frischem Wasser. Es mochten zwei bis drei Liter darin gewesen sein. Den hob ich hoch, setzte ihn an und ließden erfrischenden Trunk solange durch die Kehle rinnen, bis auch nicht ein einziger Tropfen mehr übrig war. Dann schlief ich fest, bis mich das Knirschen des Riegels weckte und der Brigadier mich zum Frühstück holte.

Das schwere Gewitter vom Vorabend, das mir so wunderbar geholfen hatte, war verzogen. Strahlender Sonnenschein drang durch die Fenster, und auf der anderen Seite des Flusses sah ich grüne Höhenzüge und Berge liegen: Frankreich. Und ich war frei ..

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