FRANZÖSISCHE GEFÄNGNISSE
Gegen Abend fuhren wir in Clermont ein. Ich kannte das Städtchen und wußte, daßsich dort ein Armeeoberkommando befand, denn wir hatten aus der Höhe mehrmals unsere Bomben auf die Stadt niedersausen lassen. Wir erreichten ein vergittertes Barackenlager, in dem sich deutsche Soldaten bewegten. Es wurde hin und her verhandelt, dann bekam ich eine Decke und mußte den Gendarmen folgen. Wir marschierten durch die Straßen. Einwohner und Milizsoldaten sahen mich neugierig an, und besonders die Weiber stießen die unflätigsten Schimpfworte gegen mich aus. Vor einem finsteren, fensterlosen Gebäude wurde haltgemacht, es ging durch ein großes eisernes Tor, Treppen hoch hinauf bis unters Dach, wo man mich in eine Zelle führte.
Da war ich glücklich im Gefängnis von Clermont. Die Tür fiel hinter mir ins Schloß. Ich sah mich in der Zelle um und bemerkte auf der Pritsche einen Mann, der eine deutsche Feldwebeluniform trug. Dichtes schwarzes Haar umgab seinen Kopf. Vielleicht ein Musiker, den man eingezogen hatte. Aber sein Verhalten war so unmilitärisch, daßes mir blitzschnell klarwurde, einen Agent provocateur,
einen Spitzel, vor mir zu haben. Ich wußte, daßdie Franzosen sich gern solcher Leute bedienten, um aus den Gefangenen etwas herauszubekommen. Der Bursche in meiner Zelle war ein mit erbeuteten Uniformstücken ausgestatteter Spion.
Ich hütete mich, ihn merken zu lassen, daßich ihn durchschaut hatte. Harmlos gab ich ihm auf seine Fragen bereitwilligst Antwort.
Daßich ihn dabei anlog, war selbstverständlich. Nachdem ich ihm genug erzählt hatte, was die Franzosen wissen sollten, machte ich auch kein Hehl aus meiner Empörung über die schlechte Behandlung, die völkerrechtswidrig war und gegen die Genfer Konvention verstieß. Dann drehte ich sogar den Spießum und horchte ihn aus, ließmir erzählen, von welchem Truppenteil er stammte, und trieb ihn so in die Enge, daßer mir kaum antworten konnte. Nach drei, vier Stunden etwa wurde mein Verdacht bestätigt. Der Gefangenenwärter holte den Burschen aus meiner Zelle ab. Auch jetzt ließich mir nichts anmerken, sondern schüttelte ihm freundlich die Hand und wünschte ihm mehr Glück bei den Franzosen, als ich es hatte. Alles —ohne eine Miene zu verziehen.
Meine Habseligkeiten, die man mir bei der Gefangennahme abgenommen hatte, bekam ich nun wieder, allerdings fehlte meine Uhr. Ich wurde jetzt täglich mindestens zweimal vernommen. Man holte mich aus der Zelle, führte mich über Treppen und Gänge in einen Raum, in dem ein Tisch stand. Dort saßder Dolmetscher und Inquisitor, der beharrlich immer wieder die gleichen Fragen an mich richtete und stets die gleichen Antworten bekam. Jeden Tag wickelte sich dieselbe Komödie ab.
Er besaßeine deutsche Heeresrangliste und sprach von einem Hauptmann Köhl, der als Geschwaderkommandeur an der Westfront sein Unwesen treiben sollte. Ja, versicherte ich ihm, das sei mein Bruder, dem ich es verdankte, daßich zu der Flugwetterstelle gekommen sei. Nun wollte er unseren Startplatz erfahren, und an dieser Stelle versandete unser Gespräch regelmäßig, denn hier verweigerte ich glattweg jede Auskunft.
Manchmal bot er mir eine Zigarette an, um mich gefügiger zu machen; er war dann sehr freundlich und wies darauf hin, daßer ja auch nur seine Pflicht erfülle. Wenn aber alles nichts fruchtete, wurde er wild, schrie und tobte; aber ich zuckte nur die Achseln und erklärte, überhaupt keine Auskünfte mehr zu geben. Solange er mir glaubte, daßich wirklich Wetterfrosch gewesen sei, wollte er viel über die Ausrüstung dieser Wetterstellen erfahren. Da ich davon nur sehr wenig wußte, mußte ich ihm ausweichende Antworten geben, um mich nicht zu verraten. Er merkte das, und es machte ihn höllisch wütend. Dann schickte er mich in meine Zelle zurück, wo es nichts anderes gab als den Wasserkrug und die Pritsche.
Verpflegt wurde ich nicht. Wer Geld hatte, durfte sich mittags etwas kaufen. Nun, ich hatte Glück. Schon seit langer Zeit trug ich in meinem Brustbeutel ein goldenes 25-Francs-Stück, das durch Zufall in meinen Besitz gelangt war. Für dieses Geld konnte ich mir zwar das eine oder andere besorgen lassen, aber ich mußte haushalten, denn ich wußte ja nicht, wie lange man mich hier im Gefängnis festhalten würde.
So bestellte ich mir nur ein kärgliches Mittagessen, manchmal auch ein paar Zigaretten. Das Rauchen tat gut; es vertrieb die Langeweile dieser öden Haft. Vor allem aber wollte ich dadurch in den Besitz von Zündhölzern gelangen, die mir bei einer Flucht von Nutzen sein konnten. Denn Tag und Nacht träumte ich davon, zu entfliehen. Ich sah mir das Zellenfenster genau an, berechnete, wie lang ein Strick werden würde, der sich aus meiner Schlafdecke herstellen ließ. Aber unten im Hof gingen die Posten auf und ab. Keine Franzosen, sondern Schwarze, die mit ihren großen Augen schreckerregend rollten und grimmig die blitzenden Zähne zeigten. Diese Wilden waren wachsamer als die französischen Soldaten.
Es war eine fürchterliche Zeit, die ich in dem Gefängnis von Clermont verlebte, ohne zu wissen, was die Zukunft bringen würde. In den Nächten schwirrten die Flieger über uns hinweg, und von fernher hörte ich, daßsie Bomben warfen. Wenn sie sich nun mit unserem Gefängnis beschäftigten, waren wir die ersten, die daran glauben mußten. Das war wohl auch der Grund dafür, daßman uns ganz nach oben gesetzt hatte. Meine Kleidung hatte durch die Flucht schrecklich gelitten, auch die Wäsche war völlig zerrissen. Ich bat daher den Wärter um Nadel und Faden, und auch er sah ein, daßich dies dringend benötigte.
Jetzt war ich nicht nur in der Lage, meine vollkommen zerfetzte Uniform wieder instand zu setzen, ich hatte auch eine Beschäftigung, die mir über die langen Stunden des Wartens hinweghalf. Mein abgeschnittener Fliegeranzug bekam einen tadellosen Saum, und jedes Loch meines Waffenrocks wurde so fabelhaft gestopft, daßes auch eine Kunststopferei nicht besser machen konnte. Schien die Sonne, zog ich die Schattenstriche nach, die durch das Gitter auf den Boden der Zelle geworfen wurden; bisweilen hörte ich auch eine Uhr schlagen und konnte vergleichen. Lange dauerte es nicht, dann hatte ich eine so ausgezeichnet arbeitende Sonnenuhr, daßich an ihr sogar die Minuten ablesen konnte.
Die Decke meiner Zelle war mit Brettern verschlagen. Vielleicht gelang es mir, eines davon zu lösen, durch das Loch hindurchzusteigen, einige der Dachziegel abzuheben und so zu entfliehen. Wenn wir täglich für etwa zehn Minuten in den Hof zur Latrine geführt wurden, sah ich mir die Gebäude von außen genau an, und es war gar nicht ausgeschlossen, hier zu entwischen, wenn ich nur lange genug dablieb.
Leider gelang es mir aber nicht, eine Schere oder ein Messer zu bekommen. Auch war es nicht einfach, aus einer Schlafdecke ein wirklich brauchbares Seil zu verfertigen. Das würde sicher reißen und ich müßte abstürzen. Schließlich konnte ich das billiger haben, indem ich mich gleich aufhängte. Aber einstweilen dachte ich nicht daran. Es war schon sehr gut gewesen, daßich, bevor ich in die Gefängniszelle kam, noch eine so schöne Reise in der freien Natur zurück zur Front gemacht und dabei unterwegs so bitter Hunger und Durst gelitten hatte, denn im Vergleich dazu erschien mir die Situation, in der ich mich jetzt befand, beinahe als eine Verbesserung. Ich weißnicht, ob ich nicht verrückt geworden wäre, hätte man mich gleich nach der Landung in eine Zelle gestopft.
Bei den vielen Verhören, denen ich täglich unterzogen wurde, hatte ich auch feststellen müssen, daßdurch Hunger und Durst bei dem abenteuerlichen Versuch, mich durchzuschlagen, bei dem ich, gehetzt wie ein Wild, vor den Verfolgern fast zusammengebrochen war, mein Gedächtnis stark gelitten hatte. Ja, ich konnte nicht mehr sagen, ob ich am 14. oder 15. April geboren worden war. Erst viel später, als ich schon lange im Gefangenenlager war, erfuhr ich, daßich ein falsches Datum angegeben hatte. Mein Gedächtnis hatte auf der Flucht gelitten, aber dafür waren tierische Instinkte in mir wach geworden. Ich hörte viel feiner als zuvor und vermochte sogar Wasser auf sehr weite Entfernungen zu wittern. Erst langsam kehrte der normale Zustand wieder zurück.
Nach ein paar Tagen brachte man mich in eine andere Zelle. Bisher konnte ich, wenn ich mich an das schmale Fenster hängte, wenigstens etwas sehen. Gegenüber lag ein Haus, in dem sich militärische Büros befanden, denn ich erblickte durch die Fenster arbeitende Offiziere. Von Zeit zu Zeit zeigte sich auch manchmal ein weibliches Wesen. Das war wenigstens eine kleine Abwechselung.
Vor dem Fenster meiner neuen Zelle befand sich jedoch eine Blende, die das Licht nur von oben hereinließund jede Sicht verhinderte. Ich machte hier aber einen für mich sehr wertvollen Fund.
Unter der Pritsche fand ich einen richtigen deutschen Stahlhelm, den ich mir schleunigst aneignete. Ich besaßnur meine Fliegerkappe, und spürte, daßman uns Flieger weit schlechter behandelte als andere Soldaten. Auch die Wut der Bevölkerung, die ja wußte, wieviel Schaden unsere Bomben angestiftet hatten, war auf uns besonders groß.
Eines Tages hörte ich in der Zelle neben mir plötzlich Geräusche. Ich paßte scharf auf und stellte fest, daß, wenn man mir das Essen hereinschob, nebenan auch etwas abgegeben wurde. Als die Luft rein schien, stieg ich am Fenster hoch und pfiff leise durch die Blende, um mit meinem Nebenmann Verbindung aufzunehmen. Bald pfiff es ebenso leise zurück, wir tauschten das übliche „Hallo !", und dann wagte ich flüsternd zu fragen : „Wer ist dort ?" Als Antwort bekam ich: „Deutscher Flieger", und dann rief auch ich hinüber, daßich deutscher Offizier sei. Schnell stellten wir fest, daßwir beide wirklich deutsche Soldaten waren; ich nannte ihm meinen Namen, und mein Nebenmann sagte mir leise, daßer Corte heiße, Oberleutnant und Jagdflieger sei.
Als Corte wußte, wer neben ihm saß, teilte er mir mit, daßer mir etwas zu sagen habe. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daßdie Franzosen uns scharf beobachteten und wir sehr vorsichtig sein müßten. Aus diesem Grunde schlug ich vor, lieber zu morsen und uns durch Klopfen zu verständigen. Da wir beide aber nicht ganz sattelfest waren, so begannen wir damit, daßich zunächst die einzelnen Buchstaben der Morsesprache dem Alphabet nach gegen die Wand klopfte und er von drüben wiederholte. Der Punkt war ein heftiger Schlag, während wir den Strich durch zwei kurz aufeinanderfolgende, leichtere Klopftöne ersetzten.
Es dauerte Stunden, bis wir uns auf diese Weise das Morse-Alphabet rekonstruiert hatten und uns so verständigen konnten. Als es endlich klappte, konnten wir uns tadellos unterhalten. Ich fragte an, wann er abgeschossen worden sei, und da dies erst vor zwei Tagen der Fall gewesen war, interessierte es mich ganz außerordentlich, was sich nach meinem Abschußereignet hatte. Und dann kam die Antwort. Es war ein ganz eigenartiges Telegramm, das ich zunächst gar nicht verstand. Er mußte es dreimal wiederholen, und ich buchstabierte es mir zusammen ...
„Dux imperator duci septimae escadrilliae blauer Max.”Corte hatte diese Nachricht für den Fall, daßdie Franzosen unser Gespräch mit abhörten, tadellos getarnt. Aber ich verstand ihn und erfuhr nun hier in der engen Zelle des Gefängnisses von Clermont, daßmir der Pour le merite wirklich verliehen worden war.
Das war ein kleiner Trost in dieser bösen Zeit. Gewiß, ich freute mich über diese höchste Auszeichnung, die einem deutschen Soldaten zuteil werden kann. Was ich vor Jahren in meinen kühnsten Träumen kaum zu hoffen gewagt hatte, war Wirklichkeit geworden. Ich freute mich riesig, und diese Nachricht wurde ein gewaltiger Ansporn, meine Selbstbefreiung mit allen Mitteln zu betreiben. Den Oberleutnant Corte habe ich im Offiziersgefangenenlager Montoire wiedergesehen und ihm sehr herzlich für seine Mitteilung gedankt, die viel dazu beigetragen hat, mich über die schlimme Zeit im Gefängnis von Clermont hinwegzubringen.
Am nächsten Tage öffnete sich die Zellentür, und es kamen zwei Infanterieoffiziere, die bei einem Angriff von den Franzosen geschnappt worden waren. Ich war außerordentlich vorsichtig und zurückhaltend, aber sehr bald stellte ich fest, daßes wirkliche Deutsche waren. Vor allem machte ich sie darauf aufmerksam, daßwir belauscht würden und nur über solche Dinge reden wollten, die jeder hören durfte. Sie erzählten viel von ihrer Heimat, und von diesem Augenblick war der Aufenthalt in der dumpfen Zelle weit angenehmer.
Schon am Abend überraschte man uns aber durch die Mitteilung, daßwir sofort in ein anderes Lager transportiert würden. Ich setzte meinen Stahlhelm auf, und als wir abgeführt wurden, kam der Dolmetscher, der mich tagtäglich gepiesackt hatte. Er übergab uns den Gendarmen, denen er in einem umfangreichen Umschlag unsere Akten aushändigte. Man zeigte uns mit viel Umständlichkeit die geladenen Revolver, und als wir die Treppe hinuntergingen, konnte ich es mir fast nicht verkneifen, mich mit einem äußerst kaum wahrnehmbaren Lächeln von dem Manne zu verabschieden, den ich bei den Verhören nach Strich und Faden angelogen hatte. Auch er hatte noch etwas auf dem Herzen, denn er rief mir die Treppe hinunter nach: „Sie haben mich schön angeschwindelt, Herr Hauptmann. Durch abgeschossene Flieger habe ich Nachrichten über Sie erhalten und erfahren, daßSie der Geschwaderkommandeur Köhl sind."
Ich mußte heilfroh sein, daßich aus Clermont wegkam, denn das Lügen war auf die Dauer doch eine sehr heikle Sache. Auf dem Bahnhof erwartete uns ein kleines Züglein, das wir bestiegen, und nun ging es durch grüne Felder und weite Wiesen an baumbestandenen Chausseen vorbei. Es war so herrlich, nach der langen Gefängnishaft wieder einmal die Luft einer, wenn auch unvollkommenen Freiheit zu spüren, daßich es fast vergaß, nach Gelegenheiten zu suchen, die mir das Ausreißen ermöglichten.
Von hier aus war es ziemlich weit bis zur Front. Aber später würde sich bestimmt ein Weg finden, doch noch zu entwischen. In Creil stiegen wir aus und verbrachten lange Stunden in einem richtigen Käfig, einem unter freiem Himmel stehenden Lattenverschlag, in den wir zu dritt gepfercht wurden. Dann schaffte man uns :n einen anderen Zug. Wir fuhren weiter in Richtung auf Paris zu. Auf einem Vorortbahnhof der französischen Hauptstadt blieben wir die Nacht in unserem Abteil, bewacht von vier Gendarmen, die sich gegenseitig ablösten.
Kein Licht, der ganze Verkehr wickelte sich im Dunkeln ab, denn man fürchtete sich vor den Fliegern, die in den letzten Tagen ein paarmal hergekommen waren. Am Morgen ging es weiter, nun aber in östlicher Richtung. Abends erreichten wir Vitry le Fraiwois, ein kleines Städtchen in der Champagne. Auf dem Wege dahin lag seitlich der Strecke viel zerstörtes Eisenbahnmaterial, wir kamen auch an Truppenlagern vorbei und sahen ganz nahe vierzig bis fünfzig kleine Tanks, dieselben Dinger, die ich an der Aisne so oft aus der Luft mit Bomben beworfen hatte.
In Vitry mußten wir den Zug verlassen und marschierten durch Straßen und über Plätze hinweg, immer angestarrt von Zivilisten und Militär. Da und dort ein schimpfendes Weib oder eine spuckende Megäre. Ein graues finsteres Gemäuer, eine eisenbeschlagene Tür öffnete sich: das Gefängnis von Vitry. Laut Genfer Abkommen war es verboten, Kriegsgefangene in Gefängnissen unterzubringen. Aber die Franzosen wußten sich zu helfen. Sie malten ein rotes Kreuz auf das Dach und nannten das Ganze „Hospital".
Man stießmich wieder in eine enge Zelle, in der ich fast vierzehn Tage in Einzelhaft zubrachte. Der Raum war höher als in Clermont, und unter der Decke befand sich ein schmales Fenster. Auch hier vertrieb ich mir die Zeit mit der Beobachtung des Sonnenlaufes und beobachtete den fürchterlichen Kampf, der sich in dieser einsamen Zelle zwischen einer Spinne und ein paar Fliegen abspielte.
Vor allen Dingen benutzte ich den Aufenthalt in Vitry dazu, meinem stark mitgenommenen Gedächtnis wieder auf die Beine zu
helfen. Alle Gedichte, die ich früher einmal gelernt hatte, deklamierte ich. Und wenn es mir gar zu langweilig wurde, sang ich alle mir bekannten Lieder schallend zum Fenster hinaus, damit an dem herrlichen Gesang jeder erkennen konnte, daßhier der Hauptmann Köhl saß, denn so falsch wie ich konnte beim besten Willen kein anderer singen. Viele, die ich nicht sah und die mich nicht sehen konnten, erfuhren auf diese Weise, daßman auch mich geschnappt und hier untergebracht hatte.
Die Behandlung in Vitry war etwas besser als in Clermont. Das Gefängnis war nicht nur sauberer, sondern wir wurden auch verpflegt, ohne daßwir besonders dafür bezahlen mußten. Wer Geld hatte, durfte sich sogar Rauchwaren kaufen. Auch ich tat das, aber nicht für mich, sondern, um anderen gelegentlich eine Freude zu machen.
Täglich wurden wir einmal ins Freie geführt. In ganz schmale Gefängnishöfe, in denen wir uns eine halbe Stunde lang bewegen durften. „Promenade Messieurs, promenade Messieurs !" lautete der Schlachtruf unserer Wärter, wenn sie uns aus den Zellen holten. Das war eine schöne Promenade! Mauern und Sand, schrecklich enge und ausgetretene Wege, die man entlangtraben mußte, ob man wollte oder nicht. In diese Gefangenenhöfe wurde jedesmal auch ein anderer Gefangener geschickt, mit dem man sich unterhalten durfte.
Man mußte jedoch sehr vorsichtig sein, denn es gab auch hier viele Spione. Da war vor allem ein Leutnant Meyer, mit dem ich oft spazierengehen mußte. Er sah wirklich aus wie ein Deutscher, behauptet bei einem Sturmbataillon gewesen zu sein und wollte alle möglichen Flieger kennen. Ich habe ihm nie getraut, und darum auch nie dienstliche Dinge mit ihm besprochen.
Als ich wieder einmal zur Promenade geführt wurde und den Hof betrat, saßjener Meyer schon auf der dort aufgestellten Tonne und begrüßte mich überaus herzlich. Ich beachtete ihn kaum. Dann klirrten die Schlüssel wieder, die Tür sprang auf, und im Türrahmen erschien einer, den ich kannte. Zerlumpt, unrasiert und verwahrlost. Herrgott, das war kein anderer als Falke, mein tüchtiger Staffelführer, der nach meinem Abschußsicher das Geschwader führte!
Aber nein, das konnte nicht sein; der Ankömmling sah ihm sicher nur verflucht ähnlich. Aber der andere las das Gedankenspiel in meinen Augen, nickte mit dem Kopf und begann in seiner bekannten Art zu reden. „Ja, ja, ich bin's schon!" —Wirklich, es war Falke. Auch ihn hatte man abgeschossen ... mit Schmidz, dem tadellosen Piloten.
Sie hatten versucht, zurückzulaufen, aber gleich in der ersten Nacht waren sie geschnappt worden.
Ich hatte tausend Fragen auf dem Herzen. Schnell flüsterte ich ihm zu, nichts von dienstlichen Dingen zu reden und keine Namen zu nennen. Aber wir hatten uns trotzdem so viel zu erzählen. Der Leutnant Meyer spitzte die Ohren. Ohne ihn zu beachten, setzten wir uns in eine andere Ecke des Hofes und waren überrascht, als die Tür knarrte und wir wieder in unsere Zellen gebracht wurden. In diesem Gefängnis habe ich Falke nicht mehr gesehen. Später dachte ich über diese Begegnung nach, und nun stand es für mich fest, daßdieser Jägerleutnant Meyer bestimmt ein Spitzel war, der uns aushorchen sollte. Denn sonst hätten uns die Franzosen bestimmt nicht den Gefallen getan, mich mit meinem Kameraden Falke zusammenzubringen. Sie hatten geglaubt, wir würden in unserer Wiedersehensfreude etwas von bevorstehenden militärischen Operationen reden; aber darin waren sie gründlich getäuscht worden.
Da ich nun ganz genau wußte, daßdieser Meyer ein Lump war, stieg ich zu meinem Fenster hinauf und brüllte so laut ich konnte hinaus: „Vorsicht, Kameraden, Leutnant Meyer ist Spion 1" Nun mußten alle wissen, was sie von diesem Burschen zu halten hatten. Etwas später öffnete der Gefangenenwärter mit wütendem Blick meine Zellentür und wollte wissen, ob ich hinausgerufen hatte. Man konnte mir aber nichts nachweisen.