VON KERKER ZU KERKER

 

Vierzehn Tage waren um. Ich hatte die Nase gründlich voll. Unten im Pförtnerhaus erwarteten uns wieder Gendarmen. Die Reise sollte weitergehen. Zunächst mußten wir aber einen Revers unterschreiben, daßman uns alle bei der Gefangennahme abgenommenen Sachen wieder zugestellt habe. Eigentlich wollte ich mich weigern, da man mir ja meine Uhr gestohlen hatte. Als man mir aber bedeutete, daßich so lange in Vitry warten müßte, bis der Verbleib der abhanden gekommenen Uhr aufgeklärt wäre, unterschrieb ich. Es war ja auch gleichgültig; die Uhr brauchte ich nicht, während die Abwechslung wichtig war.

In den Tagen vorher hatte ich viel Freiübungen gemacht, um meine eingerosteten Glieder wieder in Schwung zu bringen. Ich fühlte mich nicht wohl, und im Grunde war es mir wenig angenehm, in dieser miserablen körperlichen Verfassung

abtransportiert zu werden. Man führte mich zum Bahnhof ; nun wurde ich von Ort zu Ort geschleppt. In Saint Didier schaffte man mich wieder in ein Gefängnis. Auf dem Wege dorthin sah ich viele Sandsackpackungen vor den Kellerfenstern. Auch die Denkmäler hatte man sorgfältig mit Sandsäcken eingewickelt. Deutlich spürte man in allem die Angst, die den Leuten vor uns Bombenschmeißern in den Knochen saß.

Am nächsten Tage ging es wieder eine Etappe weiter. Wie der Ort hieß, an dem wir abends ausstiegen, habe ich nicht feststellen können. Der Schienenweg hatte uns die ganze Zeit über nach Süden geführt. Wieder bracht man mich in ein Gefängnis, diesmal aber ins Kellergeschoß. Ein übelriechendes, stockdunkles Loch war es, in das man mich stieß. Die schmale Pritsche füllte den Raum halb aus, und es befand sich nichts weiter darin als eine stinkende Blechtonne. Es war bitterkalt, und ich fand auf meiner Pritsche keinen Schlaf. Diese Nacht wurde zu einer Ewigkeit, denn wenn ich für ein paar Minuten einschlief, fiel ich von der schmalen Pritsche herunter. Am Morgen kam ein Lichtstrahl durch einen langen Schacht herein, der weit nach oben führte und nur sehr wenig Licht hindurchließ.

Meine Erkältung wurde immer unangenehmer. Ich hatte heftiges Fieber bekommen, und fast versagten meine Nerven in dieser fürchterlichen Zelle. Wie froh war ich, daßich wenigstens ein paar Zigaretten hatte, deren Duft mir einige Erleichterung verschaffte. Schauerlich langsam —fast tödlich schlich die Zeit dahin. über 36 Stunden mußte ich hier zubringen. Ein Stein fiel mir vom Herzen, als sich die Tür öffnete und ich wieder nach oben durfte, denn lange hätte ich es nicht mehr ausgehalten. Es war die schlimmste Nacht und der furchtbarste Tag, den ich je verbracht hatte. Eine Ungeheuerlichkeit sondergleichen, einen Menschen in einem derartigen Loch einzusperren!

Ich war abgespannt, ein schlimmer Grippeanfall schüttelte mich und meine Beine wollten mich kaum noch tragen. Erlöst atmete ich auf, als die beiden Gendarmen erschienen, um mich zur nächsten Etappe zu bringen.

Wir fuhren am Abend los, diesmal sogar in einem Abteil 2. Klasse. Ich wunderte mich über diese bevorzugte Beförderung und mein Erstaunen wuchs noch, als nach einer kleinen Weile ein Offizier ins Abteil kam. Meine Gendarmen wiesen darauf hin, daßes verboten sei, ein Gefangenenabteil zu benutzen, aber er machte ihnen klar, daßder Zug überfüllt sei, und die braven Leute sahen das schließlich auch ein.

Da saßnun dieser Franzose —er war Flieger —mir gegenüber und bot mir eine Zigarre an. Er unterhielt sich mit meinen Transporteuren und war der Meinung, daßich kein Wort französisch verstand. Viel war es ja nicht, was ich wußte, aber ich konnte doch seinem Gespräch entnehmen, daßer in deutscher Gefangenschaft gewesen war. Dort war er gut behandelt worden und berichtete meinen Begleitern, daßer zweimal zu fliehen versucht habe. Das eine Mal wäre er geschnappt und in Arrest gesteckt worden, beim zweitenmal sei es ihm aber geglückt. Irgendwo war er über die schweizerische Grenze entkommen.

Er schien sehr stolz darauf zu sein. Meine Gendarmen sagten ihm, daßich genau so ein lockerer Vogel sei und baten ihn um Auskunft, wie sie es wohl am besten anstellten, daßich ihnen nicht auch ausriß. Der französische Fliegeroffizier überlegte lange, und dann fand er schließlich das Mittel, das er mit philosophischer Weisheit meinen Leuten zur Anwendung empfahl.

„Ja, ich kann nur sagen      toujours attention, toujours attention!"

Damit hatte der gute Mann den Nagel auf den Kopf getroffen: immer Obacht geben, immer aufpassen, auch wenn der Gefangene noch so kläglich aussieht. Aber was für die Bewachungsmannschaften galt, das traf im besonderen Maße auch für den künftigen Ausreißer zu. Niemals habe ich die Worte dieses französischen Offiziers vergessen. Ich habe sie überall auch sonst im Leben brauchen können, es war ein wirklich wunderbares Rezept.

Meine Gefangenenwärter bemühten sich in den nächsten Stunden, dem vortrefflichen Rate zu folgen. Aber als der Offizier ausgestiegen war, da übermannte sie doch der Schlaf, und sie nickten beide friedlich ein. Als der Zug plötzlich auf freier Strecke hielt, wachte der eine auf, sah seinen Kameraden schlafen und rißsich zusammen. Wäre ich nicht so todkrank gewesen, hätte mich das Fieber nicht so barbarisch geschüttelt, glatt hätte ich aus dem fahrenden Zuge abspringen können. Aber es war Wahnsinn, mit der Grippe im Leibe einen Fluchtversuch zu machen.

Wir erreichten Creusot, die Stadt der großen französischen Waffenfabriken. Was man eigentlich damit bezweckte, daßman mich durch ganz Frankreich schleppte und mich eine so wunderschöne Reise machen ließ, wußte ich nicht. Man hatte mir zwar verraten, daßich in ein Gefangenenlager in Mittelfrankreich kommen sollte, aber bisher war ich immer hinter der Front hin und her kutschiert worden.

Wir setzten uns in den Wartesaal. Da meine Gendarmen beobachtet hatten, daßich ziemlich krank war, ließihre Aufmerksamkeit beträchtlich nach. Einer von ihnen legte sich lang, und auch der andere, der mich ja eigentlich bewachen wollte, schlummerte nach kurzer Zeit tief und fest. So also befolgten sie das Rezept jenes Fliegers: „toujours attention". Jetzt hätte ich ganz gemütlich abhauen können, aber das Fieber hatte in mir den Willen gründlich zerstört. Ich mußte warten; vielleicht bot sich später wieder einmal eine so günstige Gelegenheit.

Am Morgen wachten die beiden Helden auf, erschraken mächtig und hatten ein schlechtes Gewissen. Sie waren froh, daßich noch da war, und zeigten sich dankbar, denn es hätte ihnen schwer aufs Dach gehagelt, wenn ich verschwunden wäre. Sie besorgten mir Speise und Trank und bewiesen mir so ihre Dankbarkeit. Viel Publikum strömte zum Bahnhof, Marktfrauen, die den ersten Zug erwarteten, lachend und Witze machend, mit nie stillstehendem Mundwerk.

Auch ich war bald Gegenstand dieser Unterhaltungen. Erst sahen sie mich geringschätzig an, und dann fiel zum erstenmal das Wort „Boche", das nun dauernd wiederkehrte. Ich beglückwünschte mich dazu, einen Stahlhelm zu besitzen, denn die Leute glaubten, in mir einen Infanteristen vor sich zu haben. Hätten sie erfahren, daßich Flieger sei und gar Bombenschmeißer, so wäre es bestimmt nicht erfreulich für mich gewesen.

Wir setzten unsere Reise fort und stiegen gegen Mittag in Dijon aus. Ich wußte, das war eine Festung. Hier wurde auch mein Transportpersonal abgelöst. Vor der Bahnhofskommandantur übergab man mich zwei Gendarmen, die sich auf ihre Pferde schwangen und mir durch Winke zu verstehen gaben, in Richtung Südwesten auf die Höhen zu marschieren. Einer ritt vor mir her, der andere blieb hinter mir, nachdem sie mir unter furchtbarem Grimassenschneiden die Pistolen gezeigt hatten. Ich nickte nur; mir war ja so hundeelend zumute. Und nun ging es aus der Stadt hinaus, immer bergauf.

Die dem im Talkessel versteckten Dijon vorgelagerten Höhen enthielten Bollwerke und Forts, deren Umrisse schon von ferne deutlich zu erkennen waren. Schließlich verließen wir die Straße, und in ganz engen Wegen ging es vollends hinauf. Auf dem Marsch prägte ich mir jede Einzelheit ein. Wenn ich da oben ins Lager kommen sollte, was mir kaum glaubhaft erschien, mußte ich die Umgebung kennen. Mein Fluchtwille war einstweilen zwar begraben. Schlapp und krank stolperte ich zwischen den Gendarmen die Höhe hinauf. Sobald ich mich aber einigermaßen erholt hatte, mußte ich fliehen. Und wenn es mir gelänge, hier wegzukommen, dann war es auch nicht mehr allzu-weit bis zu der rettenden Schweizer Grenze.

Durch einen Torbogen hindurch betraten wir eines der Sperrforts, die Dijon vorgelagert sind. „Toter Mann" oder so ähnlich hatte man diese Befestigungsanlage getauft. Wir kamen in den Kehlbau; oben auf den Wällen weiter hinten hatte ich ein paar kriegsgefangene Offiziere gesehen, aber dorthin brachte man mich nicht, sondern durch ein eisernes Tor in die Vorkaserne. Hier mußte ich drei bis vier Stunden warten, bis ein Unteroffizier erschien, den dicken amtlichen Brief, der mich nun auf allen meinen Wegen begleitete, öffnete, ihn las und feststellte, daßich Flieger war.

Da hatten mich die Gendarmen also richtig in ein falsches Lager geführt. Schon beim Aufstieg war mir der Gedanke gekommen, daßes mit meiner Unterbringung hier so nahe einem neutralen Lande kaum seine Richtigkeit haben könne, denn man wußte ja, daßich der typische Ausreißer war, und dann erfreuten wir Flieger uns einer ganz besonders aufmerksamen Behandlung. Man hielt uns für verwegene Burschen, die nach Ansicht der Herren Franzosen zu allem fähig waren.

Meine Gendarmen bekamen einen neuen versiegelten Befehl, und ich durfte wieder zur Stadt marschieren. Ganz in der Nähe der Bahnstation sperrte man mich zur Abwechslung wieder einmal in ein Arrestlokal. Glücklicherweise gab es dort eine Pritsche, auf der viele, viele Decken lagen. Nun ringelte ich mich zusammen und wickelte mich in die Decken. Die ungewohnte Anstrengung dieses Gewaltmarsches hatte mein Fieber noch gesteigert. Ich spürte deutlich, das war die Krisis; jetzt mußte die ekelhafte Grippe bald überwunden sein. Und richtig, es wurde wirklich besser.

Die nächsten Tage ging es mit dem Zug weiter nach Westen, dann nach Nordwesten. Ich war bitter enttäuscht und machte mir die schwersten Vorwürfe, daßich in Creusot die günstige Gelegenheit, zu entwischen, hatte verstreichen lassen. Sicherlich wäre ich dann aber auf der Flucht krank geworden. Immer weiter rollte der Zug nach Westen, und mit jedem Kilometer wuchsen die Schwierigkeiten, die sich meiner Flucht später entgegenstellen würden. Zwar hatte ich noch die leise Hoffnung, in ein Gefangenenlager zu kommen, das von der spanischen Grenze nicht allzuweit entfernt war. Nach der Fahrtrichtung zu urteilen, ging es allerdings ganz woanders hin.

Weit dehnte sich das Land; kaum besiedelt —nur da und dort ein Gehöft, und in den Niederungen zwischen den fast unendlichen Wiesenflächen manchmal ein paar Bauernhäuser um eine Kirche geschart. Aber dann sah ich in der Ferne auf einmal viele Kirchtürme. Der Zug rollte in einen Bahnhof, wir marschierten durch mäßig erleuchtete Straßen nach einer Kaserne, wo ich auf der Wache wie ein Paket bei der Gepäckablage abgegeben wurde. Ein Kasernenwärter nahm mich in Empfang und brachte mich in eine auf dem Dachboden liegende Arrestzelle.

Im Schein einer trüben Lampe sah ich ein richtiges Bett mit einem Strohsack darauf, fiel hinein und schlief tief und fest. Am anderen Morgen fühlte ich mich wieder vollkommen gesund. Die Grippe war endgültig überstanden, aber ich war in diesen Tagen fürchterlich heruntergekommen. Ich sah hohlwangig und abgezehrt aus.

Ein Sergeant brachte mich nach der üblichen Herumfuchtelei mit dem Revolver zum Bahnhof. Es war Tours gewesen, wo ich diese Nacht verbracht hatte.

Wir fuhren in nordöstlicher Richtung weiter. Nun merkte ich, daßich in einer wunderschönen Spirale durch ganz Frankreich gefahren war. Durch die Umwege, auf denen sie uns in das eigentliche Kriegsgefangenenlager brachten, glaubten die Franzosen uns verwirren und die Möglichkeit zu einer Flucht nehmen zu können. Aber ich kannte die Karte, hatte ganz genau aufgepaßt und es auch verstanden, mein Bewachungspersonal immer so geschickt auszuhorchen, daßich stets wußte, wo ich mich befand.

Der Sergeant war ein ganz umgänglicher Mann. Ich unterhielt mich mit ihm, und er erzählte mir, daßich in das Offiziersgefangenenlager Montoire sur Loir kam. Dort waren zweihundertfünfzig deutsche Offiziere neben vielen anderen Kriegsgefangenen untergebracht. In diesem Lager sollte sich ein großer Teil der in Gefangenschaft geratenen deutschen Flieger befinden.

Voll Stolz berichtete mir mein Sergeant, daßMontoire ein ganz besonders stark bewachtes Lager sei, aus dem herauszukommen bisher noch keinem gelungen war, und das Aufsichtspersonal würde dafür sorgen, daßauch in Zukunft niemand dort entfloh. Ich nickte dem guten Mann verständnisvoll zu: das würde ich ja sehr bald selbst feststellen können.

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