SOMMERREISE MIT HINDERNISSEN
Ich wollte nicht wieder zurück ins Lager oder ins Gefängnis. Um jeden Preis —ich mußte durchkommen 1 Darum warf ich den alten Plan über Bord und stellte mich, wenn auch zunächst nur rein seelisch, auf eine neue Route ein. Die Furcht und die Angst, entdeckt zu werden, die brennende Wut auf die Franzosen, die mich so lange gefangengehalten hatten, all das begrub ich. Wenn ich an all die ausgestandenen Qualen dachte, dann gab dies meinem Gesichtsausdruck etwas Furchtsames und Gehetztes, das mir jeder Mensch an den Augen ablesen konnte. Der Franzose ist mißtrauisch und klug, deshalb wappnete ich mich gegen diese Gefahr.
Ich sagte mir : es ist leicht möglich, daßsie dich wieder fangen. Doch das sollte mir gleichgültig sein, wenn ich die Freiheit nur ein paar Tage auskosten konnte. Und dann redete ich mir ein, daßdie Franzosen doch ganz nette Menschen seien, die man eigentlich schätzen müßte. Als ich diese ziemlich bittere Pille geschluckt hatte,
war mein Auftreten so sicher und meine Haltung so harmlos, daßauch dem Gewitztesten nichts auffallen konnte.
Diese Reise sollte nun ja keine Flucht mehr sein, sondern eine Erholungsfahrt durch Frankreich, und wenn der Tag kam, wollte ich nicht mehr weiter nach Nordosten wandern, sondern meine Schritte nach Südwesten lenken, hinein in das schöne Land. An dem Kanal du Midi und der Loire wollte ich nach Osten abbiegen. Erstens war die Gegend schön, zweitens mußte der Kanal zu finden sein und drittens besaßich eine Atlaspause, auf der die größten Städte dieser Route, deren Endpunkt die Schweizer Grenze war, eingezeichnet waren.
Da schreckten mich Schritte auf. Leute gingen die Straße entlang, ich aber lag so gut gesichert in meinem Versteck, daßich keine Angst zu haben brauchte. Das glühende Morgenrot wandelte sich zu einem herrlichen Sonnenaufgang. Es war unendlich schön: die Landschaft mit ihren sanftwogenden goldenen Ährenfeldern, dieser glasklare, junge Tag ... ein unsagbares Glücksgefühl durchströmte mich, und wenn meine Flucht schon jetzt zu Ende war, wenn man mich wieder in die Kerker zurückbrachte, dann war es dieser Sonnenaufgang wert gewesen, für ihn Wochen oder Monate in einer engen Zelle zu verbringen.
Als die Menschen auf den Feldern zu schaffen begannen, stand ich von meinem Lager auf. Ich war frei, mir gehörte diese ganze Herrlichkeit, die ich viel tiefer empfand als all die anderen, denen sie als etwas Selbstverständliches erschien. So trat ich wie ein froher Ferienwanderer meine spätsommerliche Reise an.
Meine übrigen Kleider hatte ich zu einem Paket verschnürt, das lustig über der Schulter wippte. Schon nach wenigen Minuten begegnete ich zwei Arbeitern, denen ich freundlich ins Gesicht sah. Sie sagten etwas zu mir, was ich nicht verstand. Ich bedauerte sie, daßsie zu ihrem schweren Tagwerk gingen, während ich hineinmarschierte in all die Herrlichkeit des spätsommerlichen Landes. Nicht lange, da erreichte ich ein kleines äußerst niedliches Städtchen, das so putzig aufgebaut war wie all diese mittelfranzösischen Orte. Kleine Knusperhäuschen mit alten Mütterchen vor der Tür.
Irgendwo hing ein Plakat. Viele Menschen standen davor und lasen. Als ich ganz nahe an ihnen vorbeilief und interessiert einen Blick darauf warf, las ich etwas von „Prisonnier" und dachte mir mein Teil. Ich fiel den Leuten nicht auf, aber als die Stadt hinter mir lag, wurde ich vorsichtiger. Ich fand ein dichtes Gestrüpp und schlängelte mich hinein. Vielleicht war es doch besser, daßich mich umzog. Sicher hatte mein Steckbrief dort an dem Hause gehangen, und es konnte nur von Vorteil sein, wenn ich mein Äußeres nach Möglichkeit veränderte.
Die nächste Ortschaft passierte ein ganz anderer Mann. Er trug kein Paket mehr über die Schulter geworfen, sondern hatte eine blaue Hose an und ein Khakihemd. Er war ziemlich dick, denn ich hatte alles, was ich sonst besaß, untergezogen. Wenn eine Quelle kam, setzte ich mich und trank fürchterlich viel Wasser. Die schöne Schokolade, die ich mir aus Kakao, Zucker und Mehl zurechtgemacht hatte, schmeckte mir nicht mehr. Viel hätte ich darum gegeben, jetzt ein ordentliches Stück Wurst oder etwas anderes Gesalzenes zu haben.
In den Weinbergen waren die Trauben schon fast reif. Ich paßte scharf auf, wenn ich eine Traube abriß, denn ich durfte mich nicht wegen Weinfrevels an dem Kanthaken kriegen lassen. Auch von den Tomatenstöcken, die am Wege standen, nahm ich im Vorübergehen ein paar Früchte.
Jetzt näherte ich mich der ersten großen Stadt. Gerade hatte ich mal wieder mein Khakihemd und die blaue Hose an —das ewige Umziehen war mir allmählich zu einer lieben Gewohnheit geworden, die mir für meine Sicherheit recht wertvoll erschien —und sah aus, als wäre ich ein Angehöriger der englischen Arbeitstruppen. Es war Chäteau Renauld, durch das ich ohne Schwierigkeiten hindurch-kam.
Hinter der Stadt mußte ich eine Anhöhe hinan. Der Aufstieg war sehr steil. Hinter mir lagen die Weinberge, nirgendwo gab es etwas zu essen, viel weniger noch etwas zu trinken. Die Sonne brannte fürchterlich, und weit schlimmer als der Hunger peinigte mich quälender Durst.
Als ich an ein Wäldchen kam, hoffte ich, dort eine Quelle zu finden. Ich war furchtbar müde, und da ich kein Wasser fand, beschloßich, in dem niedrigen Gestrüpp des Waldes während der drückenden Mittagshitze an einem bequemen Plätzchen ein Sonnenbad zu nehmen. Das war das Dümmste, was ich tun konnte. Die Sonne dörrte meinen Körper vollends aus, der Durst quälte mich entsetzlich und machte mich so schlapp, daßich mich kaum zum Weitermarsch wieder anziehen konnte.
Aber ich bißauf die Zähne und wanderte weiter. Immer über die fast kahlen Höhen hinweg. Die spillrigen Wälder waren rostbraun, nicht frisch und grün. Ein Zeichen dafür, daßdie Gegend sehr wasserarm und kalkhaltig sein mußte.
Auch an Ortschaften kam ich vorüber, aber die Zisternen lagen mitten in den umzäunten Gärten. Wie gern hätte ich um einen Schluck Wasser gebeten, aber dann mußte man merken, daßich eine fremde Sprache redete und würde mißtrauisch werden. Es bedurfte eiserner Energie, um an diesen Versuchungen vorüberzugehen.
Nun wurde es noch trostloser. Ich fand überhaupt keine Ortschaft mehr. Hätte ich eine gefunden, wäre ich bestimmt in ein Gehöft gelaufen und hätte mir Wasser geben lassen. Der Durst war stärker als die Angst davor, den Franzosen wieder in die Hände zu fallen. Mühsam schleppte ich mich weiter. Die Sonne brannte selbst am Nachmittag noch fürchterlich und unbarmherzig. Nirgendwo war ein Haus zu sehen, nur unabsehbar weite ausgedörrte Felder.
Da kam der tierische Instinkt in mir hoch. So wie das Reh im Walde die Wasserstätten wittert, so witterte auch ich, bog ab vom Weg und folgte einer Muldenlinie. Dort mußte einmal Wasser kommen. Im ersten Wäldchen war nichts von einem Quell, und so tastete ich mich weiter, immer talwärts, immer nahe daran, vor Durst zusammenzubrechen.
Jetzt war ich auch noch vom Wege abgekommen. Das war mir gleichgültig, nur Wasser, Wasser mußte ich finden. In der Ferne tauchte das zweite Wäldchen auf. Es schien etwas grüner als die anderen. Ich lief hinein. Auch hier gab es keine Quelle. Als ich mich so mühsam weiterschleppte und mich zu jedem Schritt zwingen mußte, fand ich mitten im Walde einen freien Platz, auf dem zwei Köhlermeiler standen, aus denen dicker Qualm senkrecht nach oben stieg.
Suchend blickte ich mich um und entdeckte zwischen den Bäumen ein Fäßchen. Ich schüttelte es und spürte, daßetwas Flüssiges darin war. Wasser! Vorsichtig kippte ich es, und eine braune dreckige Flüssigkeit lief heraus. Aber mein Durst war so groß, daßich von diesem ekelhaften Zeug trank.
Als ich das Faßnoch an die Lippen hielt, sah ich aus dem Walde ein Augenpaar auf mich gerichtet. Dort stand ein Mann und beobachtete mich. Nun mußte ich vorsichtig sein. Ich setzte das Faßab und tat so, als spie ich das, was ich getrunken hatte, angeekelt wieder aus.
Dann ging es weiter. Mir war von dem dreckigen Wasser beinahe schlecht geworden, aber den Durst hatte es doch ein wenig gelöscht. Immer durch die Mulde ging mein Marsch; einmal mußte ich ja eine Quelle finden. In dem dichten Gestrüpp, das immer grüner wurde, lag plötzlich eine saftige grasbestandene Fläche und mitten drin ein Tümpel mit hellem Wasser. Als ich herantrat, sprangen mindestens zwanzig Frösche hinein. Die störten mich nicht.
Ich trank einen Schluck, dann aber machte ich ganze Arbeit. Ich zog mich aus, legte mich mitten unter die Frösche, öffnete den Mund und ließdas Wasser einfach in mich hineinlaufen. Von Zeit zu Zeit tauchte ich auf, schnappte Luft und begann das Spiel von neuem. Unendlich viel habe ich getrunken, und als ich endlich genug hatte, nahm ich mein Rasierzeug heraus, machte mich fein und schick und frisch; mit meiner kleinen Handbürste entfernte ich den Staub von Schuhen und Hosen, und als ich nach einer kleinen Stunde erquickt aufatmend und mein Äußeres im Spiegel des kleinen Weihers betrachtete, durfte ich zufrieden sein.
Die Quelle entlang wanderte ich weiter, stießauf die Straße, die ich heruntergekommen war und sich nun dem Bachlauf anschloß, der hinunter ins Tal führte. So marschierte ich etwa eine Stunde weiter. Von Zeit zu Zeit stieg ich zum Bach hinab und trank nach Herzenslust das klare Quellwasser. Dann aber näherte ich mich Häusern. Anderthalb Stunden lang schritt ich durch eine langgestreckte Ortschaft, die sich zu beiden Seiten der Chaussee hinzog.
Es war sieben Uhr geworden, als die Berge zurücktraten und ich in eine weite Ebene hinausblicken konnte. Noch eine halbe Stunde Weges, und ich stand vor einer großen Stadt. Jetzt war es lebendig geworden auf der Straße. In dieser Gegend kommen die Franzosen erst abends aus ihren Häusern heraus. Ich beschloß, mir noch vor der Stadt ein Nachtlager zu suchen. Unten am Flußfand ich einen Heuhaufen, der mich die Nacht über beherbergen sollte. Außerdem sah ich auf den nahen Feldern Gurken und Kürbisse liegen. Da ich barbarischen Hunger hatte, wollte ich mich einmal sattessen.
Solange die Straße belebt war, konnte ich mich natürlich nicht seitwärts in die Felder schlagen, sondern setzte mich auf eine kleine Steinbrücke und wartete dort, bis die Nacht hereinbrach. Viele Menschen kamen an mir vorüber. Ich sagte „Monsieur" oder „Madame", denn ich hatte bemerkt, daßdies der Grußwar.
Die Sonne war untergegangen. Das schöne Abendrot wich der Dämmerung, so daßich es wagen konnte, in mein Versteck zu schlüpfen. Es war ein wundervolles Lager, auf dem ich fest und traumlos schlief. Zuvor hatte ich mir noch einen Kürbis gestohlen und von der saftigen Frucht einige Scheiben gegessen. Gut geschmeckt hatte es nicht, aber die Hauptsache war ja, daßich etwas in den Leib bekam.
Meine Schokolade konnte ich einfach nicht mehr hinunterwürgen. Aus ihr bereitete ich mir aber ein erfrischendes und nahrhaftes Getränk, indem ich immer ein paar Brocken in mein Kaffeefläschchen tat und dann mit Wasser auffüllte.
Als mich das Morgengrauen weckte, marschierte ich auf der Straße weiter und kam in die Nähe eines Bahnhofs, auf dem noch wenig Leben herrschte. In die Stadt getraute ich mich zu dieser frühen Stunde nicht. Darum machte ich kehrt, ging wieder in mein Versteck zurück und trat den Weitermarsch erst an, als es ganz hell geworden war.
Zur Stadt hinein führte eine breite Brücke über die Loire, auf der Gendarmen standen. Selbst wenn die meinen Steckbrief besaßen, konnten sie mich wahrlich nicht erkennen, denn ich hatte mir einen Verband um den Kopf gemacht und marschierte wie ein französischer Bürgersmann im schwarzen Rock und Khakihose durch das Städtchen. Niemand schöpfte Verdacht. So kam ich glücklich durch Amboise.
Auf den Wegweisern, deren Pfeilen ich nun folgte, stand Montrichard. Kaum war ich in dem nächsten schützenden Wald, trat ich ins Dickicht, nahm meinen Verband ab, zog das Khakihemd über und war aufs neue verwandelt. Ich mußte meine Marschroute eben durch diese dauernden Maskeraden verschleiern, denn daßdie Franzosen hinter mir her waren, war klar.
Sehr bald schon kam ich an einen schönen Bach, in dem ich ein erfrischendes Bad nahm. Die Gegend war prachtvoll. Es ging hinunter in das Tal des Cher. Da und dort verbesserte ich meine Kost durch Weintrauben, nahm aber nie mehr, als ich sofort vertilgen konnte, damit ja kein Weinbergwächter auf den Gedanken kommen konnte, mich zu fragen, woher ich die Trauben hätte.
Vor mir lag das weite Tal. Es war wieder Mittagszeit geworden, der frische Ostwind milderte die glühende Sonnenhitze, und auf den in der Ferne blauenden Höhen sah ich altertümliche Ruinen. Vor mir unten im Grund erhob sich ein so entzückendes kleines Weinstädtchen, wie ich es noch nie gesehen hatte. Bald schritt ich durch seine altertümlichen Straßen, durch winklige Gäßchen, die ausgestorben waren und auf denen sich kein Mensch zeigte.
Wie gern wäre ich in einen Bäckerladen oder in eine Metzgerei getreten, aber das konnte meine Ferienreise verteufelt schnell zu einem bösen Abschlußbringen. Auf einer Brücke überquerte ich den Cher und wanderte auf seiner Südseite weiter. Dort gab es nahe am Wegrand Tomaten. Während ich tat, als klopfte ich den Staub von meiner Hose, ließich schnell ein paar dieser Früchte in meiner Tasche verschwinden. Die Hitze wurde immer unerträglicher. Aber hier in der Nähe des Flusses war das zu ertragen. Wenn es gar zu arg wurde, zog ich mich aus und legte mich ins Wasser.
Als ich das wieder einmal getan hatte und mich unter ein paar Bäume legte, sah ich aus der nahen Ortschaft einen behäbigen Franzosen auf mich zukommen. Er machte einen ganz jovialen Eindruck und schien mit mir reden zu wollen. Verdammt, das konnte eine blöde Geschichte werden I Natürlich war es mir sehr peinlich, daßdieser gute alte Knabe so freundlich auf mich zupirschte, und da mir nichts Besseres einfiel, ihn mir schleunigst vom Halse zu schaffen, führte ich mich so unanständig auf, daßer naserümpfend den Versuch aufgab, sich mit einem solchen Schweinekerl in ein Gespräch einzulassen.
Mir war es sehr recht, daßer sich auf diese Weise in die Flucht schlagen ließ. Und der gute Eindruck, na, ich ertrug lieber einen schlechten, als daßmich ein besserer womöglich wieder zum Gefangenen machte. Er war noch nicht weit weg, als ich schleunigst aufbrach. Wer weiß, womöglich überwand er doch sein Vorurteil gegen übelriechende Geräusche und kam zu einem Plausch zurück.
Weiter wanderte ich, bis die Nacht herniedersank. Wenn man eine Sommerreise macht, soll man nicht durch die Geographie spazieren, wenn anständige Leute schlafen. Durch nächtliches Marschieren konnte ich mich nur verdächtig machen. In einem Wäldchen am Flußufer bereitete ich mir aus Zweigen ein Lager, aber ich hielt es nicht lange aus.
Nach ein paar Stunden unruhigen Schlafes raffte ich meinen schlappen Körper auf und lief bis gegen sechs Uhr weiter. Da alle Anzeichen darauf deuteten, daßich mich einer großen Stadt näherte, legte ich mich nochmals nieder und schlief zwei Stunden. Dann grub ich ein Loch in die Erde und versenkte hier meinen guten Waffenrock, der mein Paket gewesen war oder, wenn ich dicker erscheinen wollte, als Unterfutter gedient hatte. Ich konnte ihn kaum noch brauchen. Auch war ein Uniformstück in der Lage, mich zu verraten.
Die Stadt, in die ich nun hineinkam, war St. Aignan. Bald traf ich auf eine hohe Brücke, die sich über einen Kanal spannte. An diesem Kanal mußte ich entlang. Zunächst überschritt ich jedoch die Brücke und ging in die Stadt hinein. Hinter den Scheiben vieler Kaufläden sah ich in den Auslagen lockende Lebensmittel, aber ich traute mich nicht, irgendwo hineinzugehen und etwas zu kaufen. Mein Französisch war zu schlecht. Allerdings überlegte ich mir, daßich ja einen Engländer oder Amerikaner markieren konnte. Aber trotzdem.
Seit den Tomaten am Vortage hatte ich nichts zu mir genommen. Die „flüssige Schokolade" sättigte kaum, und mein Hunger war so gewaltig geworden, daßich mich immer mehr mit dem Gedanken befreundete, in einen Laden zu gehen um etwas zu erstehen. Auf jeden Fall mußte ich Salz haben. An alles hatte ich gedacht, aber wie bitter notwendig der Mensch dieses billige Gewürz braucht, wurde mir erst klar, als ich es mitzunehmen vergessen hatte.
Ich kam an einen kleinen Laden vorbei, in dem eine alte Frau hinter dem Verkaufstisch stand. Im Schaufenster gab es Gläser mit grünen Essiggurken „,Cornichons" ... wie die Etiketten verrieten. Mut gefaßt und eingetreten. Die alte Frau fragte mich nach meinem Begehr. „Une botte de cornichons", verlangte ich. Da sie mich anscheinend nicht verstanden hatte, wiederholte ich den Satz. Aber die Frau verstand immer noch nicht, und um die Sache wieder ins richtige Geleise zu bringen, trat ich ans Schaufenster, zeigte auf die Gurkengläser und meinte: „C'est ca !" Endlich kapierte sie, nickte und verlangte 70 Centimes. Da auf dem Ladentisch auch Ölsardinen lagen, deutete ich auf diese. Sie kosteten 40 Centimes.
Ich reichte ihr einen Zehnfrancsschein, bekam das Wechselgeld zurück und verließmit meinen Schätzen den Laden ... höllisch froh, daßich mit den kümmerlichen Resten meines Pennälerfranzösisch so gut durchgekommen war. Jetzt aber wurde ich frech. Zu Gurken und Ölsardinen gehörte selbstverständlich auch Brot. Da ich mir zutraute, meine Forderung nach Brot einigermaßen richtig formulieren zu können, stiebelte ich flott in den nächsten Bäckerladen, in dem sich zwei Frauen unterhielten.
„Trois croisants", verlangte ich, legte einen Franc hin, bekam drei kleine Weißbrote und haute damit wieder ab. Wie freute ich mich jetzt auf mein Frühstück, das eine richtige Schlemmermahlzeit werden sollte. Dann wanderte ich wieder zur Brücke zurück, die ich vorhin überschritten hatte. Auf dem Wege dorthin fand ich einen herrlichen Brunnen, aus dem in Kopfhöhe ein frischer Wasserstrahl herausschoß. Das war so gut, und ich trank so lange, daßich fürchtete, es könnte auffallen, wenn die Leute mich wie ein Pferd saufen sahen. Denn so wie ich konnte ein normaler Mensch gar nicht trinken. Gewaltsam rißich mich los, ging weiter und bog hinter der Brücke in einen Weg ein, der am Kanal entlangführte.