MEIN ERSTER FLUG

 

Unsere harte Bestrafung erregte im Korps viel Aufsehen. Die Kameraden zeigten uns ihr Mitleid und ihre Sympathie, aber nähern durften sie sich uns nicht, denn sie liefen Gefahr, dann auch zu den „Zweitklassigen" gerechnet zu werden, denen man das Leben sauer machte.

Ich hatte mir die größte Mühe gegeben, aus der dritten Sittenklasse herauszukommen, ich hatte versucht, fleißig zu sein und mir nichts zuschulden kommen zu lassen . . . es half nichts: wer einmal abgestempelt war, vermochte diesen Makel nicht mehr zu löschen. War es da verwunderlich, daßwir „Verfemten", die niemals mehr Urlaub bekamen und keinerlei Vergünstigungen zu erwarten hatten, nach heimlichen Wegen suchten, uns kleine Freiheiten und Freuden zu verschaffen`?

Des Abends nach dem Schlafengehen standen wir oft wieder auf, schlichen uns über den Hof zu einem Keller, um dort im Verborgenen Zigaretten zu rauchen. Das war selbstverständlich streng verboten, und wenn wir auch nicht viel Freude am Tabak hatten, so bestach uns das Abenteuerliche dieser Unternehmungen, von denen wir auch unseren besten Freunden nichts erzählten. Im Fasching

stiegen wir bisweilen auch mal über die Mauer, liefen in die Stadt und mischten uns in das frohe Maskentreiben. In die Lokale trauten wir uns selbstverständlich nicht hinein —die Gefahr einer Entdeckung war zu groß, und dann . . . wir hatten ja auch keinen Pfennig Geld. Nur der unter so großen Schwierigkeiten erkämpften herrlichen Freiheit wollten wir uns freuen. Eine ganze Zeitlang ging das gut. Dann aber kam ein Tag, der überraschend die Vernehmung einzelner Kadetten brachte. Die Erzieher waren aufgeregt, in den Klassen machten die Professoren hämische Bemerkungen, und drohend zog sich über uns das Unheil zusammen. Als die ersten in „Unteritalien" verschwanden, sickerte es durch, daßVerrat im Spiel war. Nicht unser Rauchklub war entdeckt worden, sondern unsere Konkurrenz, von deren Vorhandensein wir nichts geahnt hatten.

Nun mußten auch wir zittern, denn wie leicht konnte man bei der Untersuchung auf die Spuren unserer Schandtaten stoßen. Furchtbare Tage waren das, denn alle, deren Ruf nicht ganz makellos schien, wurden in stundenlangen Kreuzverhören unter die Lupe genommen. Wir hielten dicht; es kam auch nichts heraus, aber jetzt wurde es uns klar, in welche furchtbare Gefahr wir uns leichtsinnig begeben hatten. Selbstverständlich war unser Klub sofort aufgelöst worden. Wir dachten nicht mehr daran, unseren Rauchgelüsten weiter zu frönen, und hatten es uns längst geschworen, nie mehr die verbotenen nächtlichen Pfade zu betreten.

Dann aber geschah das Furchtbare: durch einen Zufall erfuhr ich, daßKameraden der anderen Kompanie sich verdächtig gemacht hatten und vernommen werden sollten. Die mußten also schnellstens gewarnt werden ! In der Geschichtsstunde schrieb ich meinem Bruder Ludwig einen Brief. Er war nicht in die Sache verwickelt und konnte die Freunde unauffällig warnen. Gerade hatte ich den letzten Satz geschrieben und wollte den Zettel verbergen, um ihn in der Pause dem Bruder zuzustecken, da sah ich die Augen des Geschichtsprofessors auf mir ruhen. Ein fürchterlicher Schreck —drei lange Schritte . . . der Professor hatte den Brief, und nun war unser Schicksal besiegelt, denn jetzt waren die Namen aller Beteiligten verraten.

Fliehen? Das konnte unsere Lage nur noch verschlimmern. Am nächsten Tage wanderten wir in Arrest. Auch Ludwig, den man aber bald wieder freilassen mußte. Die Verhöre jagten einander, und wie Keulenschläge fielen die Entscheidungen. Mein Vater wurde aufgefordert, mich aus dem Kadettenkorps herauszunehmen, weil man mich sonst relegieren müßte. Furchtbare Tage des Wartens. Die Zukunft schien zerstört, der Lebenswagen aus dem Geleise geworfen. Ich brachte lange Reuebriefe zu Papier, die zwar an meinen Vater gerichtet waren, sich aber mehr an meine Erzieher wandten, die —wie ich wußte —die Post kontrollierten. Vielleicht trug mir meine offensichtliche Zerknirschung eine mildere Beurteilung ein.

Nichts half. Unerbittlich ging das Schicksal seinen Weg, und eines Morgens wurde ich aus meiner Zelle geholt, auf das Dienstzimmer geführt und stand meinem Vater gegenüber, der gekommen war, seinen verlorenen Sohn abzuholen. Der Koffer wurde gepackt, hinter mir schlossen sich die Pforten der Kadettenanstalt.

Als wir den Bahnhofsplatz überschritten, begegneten wir meinem Religionslehrer. Professor Kennerknecht sah meinen Vater an, dann mich. Er wußte ja Bescheid. 'Über seine Züge glitt ein verständnisvolles Lächeln. Er grüßte verbindlich und blickte uns lange nach. Hier war einer, der mein Schicksal ehrlich bedauerte. Auch auf dem Kompaniebüro hatte man meinem Vater einen kargen Trost mitzugeben versucht.

„Trotz allem kann aus dem Jungen noch ein ordentlicher Mensch werden", hatte der Kompaniechef gesagt, aber er sah mich dabei so an, daßich deutlich spürte, wie wenig er selbst an das glaubte, was er aussprach. Und da war der Trotz in mir aufgestiegen. Ich wollte ein ordentlicher Mensch werden, ich wollte mich nicht unterkriegen lassen. Nun, da niemand mehr daran glaubte, erst recht

Aber wie . ? Das war unklar. —Schlimm die Fahrt zum Elternhaus, peinvoll die Tage, die diesem erzwungen „freiwilligen" Austritt folgten. Das Lebensschifflein war gestrandet —schon bevor es überhaupt freigekommen war. Was nun ?

Da scholl von der Straße herauf der Marschschritt einer aus­ rückenden Kompanie, hell klangen die Takte der Bataillonskapelle . . . und in diesem Augenblick, der mir die Tränen in die Augen jagte, formte sich dieses ungewisse „Was nun ?" zur Gewißheit. Klar sah ich vor mir das Ziel: ich würde Soldat werden, wie Vater es war, wie die Brüder es wurden —wenn auch auf geraderen Wegen als ich. Ich mußte es schaffen !

Seltsam . . . während ich diese Erinnerung an die dunkelsten Tage meiner Jugend niederschreibe, mußich an einen anderen Sommermorgen denken. Dreiundzwanzig Jahre später. Ich war doch Soldat geworden, war durch den Krieg gekommen und glücklich über den Ozean. In der großen Halle eines Münchener Hotels fand eine Begrüßung statt, und es war, als sei die Zeit stehengeblieben: viele aus jenen schlimmen Tagen, die Kameraden jener Schicksalsstunden, meine Erzieher und Professoren, alle waren sie gekommen. Die alten Kadetten trugen mir die Ehrenmitgliedschaft ihres Bundes an, man ließmich hochleben, mich, den Rausgeschmissenen.

Zwei alte verhutzelte Männlein standen damals zwischen den ordensgeschmückten Uniformen und feierlich schwarzen Röcken. Mein „Lateinlöwe" und jener Geschichtsprofessor, den das Schicksal dazu ausersehen hatte, mir den Start zu meinem ersten „Flug" freizugeben. In dieser Stunde schwand der letzte Rest der Bitterkeit, die ich lange in mir herumgetragen hatte. Hier berührten sich Vergangenheit und Gegenwart. Die einst so verwirrten Linien der Vorsehung hatten sich klar geordnet . . .

Leicht war es nicht, den rausgeflogenen Kadetten wieder auf einem Gymnasium unterzubringen. Schließlich gelang es doch. Ich siedelte nach Nürnberg über, wo ich lange dazu brauchte, mich wieder daran zu gewöhnen, nun nicht mehr zu allem kommandiert und ge­ führt zu werden. Es war für mich, als käme ich in eine andere Welt. Leider war aber auch meinem Nürnberger Aufenthalt ein rasches Ende gesetzt. Ein guter Schüler war ich ja nie gewesen, und als ich mich von dem Schock, den meine Entlassung aus dem Korps für mich bedeutet hatte, langsam erholte und mir das hitzige Arbeitstempo auf dem Realgymnasium in Nürnberg nichts Neues mehr war, stellten sich auch die alten und wohlbekannten Versetzungsschwierigkeiten wieder ein.

Um es geradeheraus zu sagen : meine Kenntnisse waren so mäßig, daßich von Rechts wegen im zweiten Jahre nicht in die nächste Klasse hätte aufrücken dürfen. Da ich aber wenig Neigung hatte, nochmals ein ganzes Jahr zu verlieren, verfiel ich auf einen kleinen Trick, der mich glücklich um diese Klippe herumbrachte. Ich sagte nämlich, daßich das Lernen satt hätte und mir einen Beruf aussuchen wollte, für den die Obersekundareife ausreichte. Meine Lehrer waren nett, man gab mir sozusagen als Abschiedsgeschenk ein entsprechendes Zeugnis, und ohne es recht verdient zu haben, war ich auf diese Weise —versetzt worden.

Nun war es aber gar nicht meine Absicht, das Rennen vor dem Abiturium aufzugeben. Daßich zu Beginn des neuen Schuljahres nicht wieder in Nürnberg erscheinen durfte, lag jedoch auf der Hand, und so kam es, daßich den Rest meiner Schulzeit in Augsburg verlebte . . . Das hatte mancherlei Vorteile. Augsburg lag noch näher an Ingolstadt, wo meine Eltern jetzt lebten, dann kostete die Pension erheblich weniger, und schließlich war auch das Tempo des Schulbetriebes am „Gymnasium zur blauen Kappe" nicht ganz so heftig wie in Nürnberg.

Ich wurde bei einem Expeditor untergebracht, einem mittleren Eisenbahnbeamten, der mich mit erzieherischen Einwirkungen verschonte. Da auch seine Frau in der Wirtschaft viel zu tun hatte, konnte ich mich hier mehr als Zimmerherr denn als Pensionär fühlen. Nur der Schule gegenüber mußten bestimmte Bedingungen erfüllt werden, denn die wollte eine Beaufsichtigung meiner Person gewährleistet wissen. Dies geschah in der Weise, daßmein Expeditor —der Anordnung meines Vaters folgend —mir nichts erlaubte, was irgendwie nach Vergnügen aussah, denn Vater hatte ihm auf die Seele gebunden, ich sei zum Arbeiten und zu nichts anderem da.

Leider gehörte auch der Theaterbesuch zu den verbotenen Genüssen. Nicht, daßdie Schule etwas dagegen gehabt hätte ! Nur war die Erlaubnis der Eltern oder ihres Stellvertreters dazu notwendig, die am Tage der Vorstellung dem Ordinarius übergeben werden mußte. Davon durfte mein Expeditor selbstverständlich nichts erfahren, sondern ich redete dem pflichttreuen Mann ein, daßder Theaterbesuch eine von der Schule bedingungslos freigegebene Sache sei.

Wir Schüler der höheren Klassen hatten auch Tanzunterricht genommen und dabei so manche zarten Bindungen angesponnen, die uns dazu verleiteten, auch außerhalb des Tanzzirkels unsere Künste an den „Mann" zu bringen. Leider war dies aber nur im Fasching möglich, wenn wir maskiert und geschminkt getrost auch einmal einem unserer Lehrer über den Weg laufen konnten, ohne erkannt zu werden, denn diese Vergnügungen waren uns Pennälern natürlich samt und sonders streng verboten. So zogen wir oft, statt ins Theater zu gehen, auf kleine, primitive Redouten.

Da trat etwas ein, womit keiner von uns gerechnet hatte. Jemand, der uns niemals bekannt geworden ist, hatte etwas von unseren heimlichen Vergnügungen erfahren und Anzeige erstattet. Eines Abends sandte der Rektor den Pedell in meine Wohnung, um kontrollieren zu lassen, ob ich zur rechten Zeit zu Hause war, und nun saßich böse in der Tinte. Angeblich war ich wieder einmal im Theater gewesen, in Wirklichkeit aber bei einer kleinen Tanzerei, und als ich verhältnismäßig frühzeitig nach Hause kam, überschüttete mich mein Pensionsvater mit einer Flut von Vorwürfen. Der Pedell, ein alter, pflichttreuer Soldat, hatte ihn aufgeklärt, und nun schien das Unheil nicht mehr abzuwenden.

Hätte mein Expeditor mir den notwendigen Erlaubnisschein noch nachträglich ausgestellt, so wäre die Sache bestens erledigt worden. Aber er weigerte sich beharrlich. Wenn ich wirklich im Theater gewesen wäre, dann hätte es nur eine leichte Strafe gesetzt. So aber wenn es herauskam, daßich tanzen war —nicht auszudenken: ich würde rausfliegen, und keine andere Lehranstalt könnte sich meiner mehr erbarmen.

Noch aber war nicht alles verloren. Ein Freund, der das Stück, das am Vorabend gegeben worden war, kannte, mußte mir rasch den Inhalt erzählen, und mit klopfendem Herzen trat ich vor meinen Rektor. Ich hatte Glück. Bei der nun beginnenden Untersuchung stand weniger jener unerlaubte Theaterbesuch zur Debatte als die Denunziation eines dunklen Ehrenmannes, der uns etwa zehn Tage vorher bei einer kleinen Tanzerei gesehen zu haben glaubte. Da nun ein ganz bestimmter Abend das Interesse meines Rektors auf sich gezogen hatte und ich feststellen konnte, daßich an diesem fraglichen Tage ausnahmsweise zu Hause gewesen war, fiel mir hörbar ein Stein vom Herzen. Hier mußte das Zeugnis meines Expeditors helfen. Aber . . . verdammt! Dann würden ja auch die vielen unerlaubten Theaterbesuche herauskommen. Die Situation war brenzlich, und meine Aussagen klangen darum recht unsicher und wenig glaubwürdig, weil ich den Rektor doch nicht von der falschen Spur abbringen durfte. Na, es konnte mir nichts nachgewiesen werden, so daßallein jener Gang ins Theater blieb, der durch das unerwartete Auftauchen des Pedells entdeckt worden war.

Es war Fasching damals, und viele Verabredungen, die ich bereits getroffen hatte, wurden durch die sich hinschleppenden Verhöre hinfällig. Nur eine nicht. Die ließsich nicht rückgängig machen. Aber wie sollte ich sie einhalten, während gegen mich das peinliche Unter­ suchungsverfahren schwebte, das leicht einen schlimmen Ausgang nehmen konnte ?

Abzusagen und vor den Schwierigkeiten zu kapitulieren, die sich der Einhaltung des gegebenen Versprechens in den Weg stellten, erschien mir feige und unmännlich. Gewiß, ich war nahe daran, den Bogen zu überspannen und fühlte mich wenig wohl in meiner Haut, aber wortbrüchig werden . . . nein. Die Kameraden warteten auf mich. Gut, ich würde kommen.

Share