ABENTEUER IM TRICHTERFELD
Jetzt erst konnte ich mich von meinem fürchterlichen Schreck erholen. Statt hinter unseren Linien zu sein, befand ich mich noch immer in Feindesland und war richtig mitten in die stärksten Befestigungen, mitten ins Trichterfeld hineingeraten. Das war die vierte Nacht gewesen. Nun kam noch einmal ein Tag, den ich in den Granattrichtern zubringen mußte. Vor mir sah ich sanft ansteigende Höhen und eine Kuppe, auf der sich frisch aufgeworfene Gräben hinzogen.
Von dort her begann es zu blitzen und zu krachen. Gurgelndes Pfeifen, wildes Heulen ... ein Schlucken, Erde spritzte hoch, und ein neuer Granattrichter war dicht neben mir entstanden.
Es sah aus, als sei die ganze Gegend verlassen. Ich sah keinen Menschen. Gegen Mittag stieg ich auf einen der Bäume, die am Rande eines Trichters standen. Kaum war ich jedoch oben, da hörte ich zwei französische Offiziere einen Hohlweg heraufkommen. Sie blieben ganz in meiner Nähe stehen, unterhielten sich angeregt und deuteten von Zeit zu Zeit nach der anderen Seite hinüber, wo ich unsere Stellungen vermutete. Am Nachmittag kamen sie ein zweites Mal und brachten noch einen Kameraden mit.
So verbrachte ich den langen Tag mitten im Trichterfeld auf meinem Baum. Nur wenn das deutsche Feuer allzu heftig wurde, stieg ich hinunter und verbarg mich in den Erdkratern, denn ich hatte keine Neigung, mich von unseren eigenen Granatsplittern zerreißen zu lassen.
Ich war jetzt nahe daran, zusammenzubrechen. Nur der Gedanke, unsere vorderste Linie fast greifbar vor mir zu haben, hielt mich noch aufrecht, während ich hungrig, durstig und fröstelnd auf meinem
Baum hockte. Noch war es Tag; erst die Nacht konnte die Freiheit bringen. Als die Dämmerung kam, wurde es unter meinem Baum lebendig. Ich hörte Soldaten; Waffen und Schanzzeug klappern. Vom Hohlweg her schollen gedämpfte Kommandos, Spaten knirschten und ausgehobene Erdschollen polterten. Auch in die Gräben vor mir waren Trupps eingerückt.
Ich ließmich am Baumstamm herunter. Dicht neben mir sprachen Leute, ich hörte sie arbeiten, vernahm ihr Atmen, aber die Nacht war dunkel. Mich in den Trichtern haltend, strebte ich kriechend der Front zu. Dann war ich im Hohlweg. Als ich auf der einen Seite hochzuklettern versuchte, stießich auf Widerstand. Ein Telephondraht. Mir kam der Gedanke, ihn zu durchschneiden, damit der Feind nicht nach rückwärts telephonieren konnte, wenn man mich beim Vorkriechen entdeckte. Das Messer heraus aber der Draht war so widerstandsfähig, daßich mich vergeblich mühte.
Als ich mich abwandte, hörte ich unmittelbar neben mir Schritte. Erschrocken zog ich meinen Kopf ein und drückte mich noch tiefer in den Grabenschatten. Nichts war zu sehen, aber ich zählte, daßfünfzehn Menschen an mir vorüberstampften. Das „bleu horizont" der französischen Uniformen war im Dämmerlicht einfach nicht zu erkennen. Nur die dreieckigen Bajonette blitzten im fahlen Mondschimmer. Eben war der letzte der Poilus neben mir, da erklang ein Befehl des Führers. Der Trupp hielt, er wechselte mit seinen Leuten ein paar Worte, die ich nicht verstand. Unwilliges Knurren und unflätige Schimpfworte waren die Antwort. Ihm war sicher etwas aufgefallen, und nun gab er den Leuten den Auftrag, nachzusehen, was dort am Wege lag. Die Mannschaften schienen aber müde zu sein und machten keine Anstalten, dem Befehl Folge zu leisten. Da der Führer das Phlegma seiner Leute kannte, kam er selbst zurück. Als er vor mir stand, knurrte er etwas vor sich hin, seine Hand berührte mich, kurz rief er den Mannschaften etwas zu, und im gleichen Augenblick stürzte sich die ganze Kohorte auf mich.
Da war ich denn doch gefangen ! Wie ich später erfuhr, war dem Gefreiten, der das dunkle Etwas am Wege stehen sah, eingefallen, daßein feindlicher Flieger in Compiegne entwischt war, auf dessen Ergreifung die französischen Militärbehörden eine Belohnung von 1000 Francs ausgesetzt hatten. Es war auch ausdrücklich darauf hingewiesen worden, daßdieser Flieger sicherlich versuchen würde, die Front wahrscheinlich in dieser Gegend zu überschreiten. Nun, für 1000 Francs konnte man schon mal ein paar Schritte zurückgehen und sich selbst vergewissern.
Man stießmich vorwärts. Ich hörte, wie Gewehrschlösser klapperten und spürte, daßvon allen Seiten die Mündungen der Schießeisen auf mich gerichtet waren. Wenige Meter weiter war schon der Unterstand einer Minenwerferstellung, in den man mich brachte. Der junge Leutnant, der dort das Kommando führte, hielt mir seine Pistole vor die Brust, um mir zu bedeuten, was geschehen würde, wenn ich den geringsten Versuch machte, mich zu befreien. Aber ich konnte wirklich nicht mehr ausreißen. Ich war am Ende meiner Kraft, und bangte nur davor, daßplötzlich eine Pistole losging. Aber nein, die Leute hatten anderes mit mir vor. Die erste Frage, die man an mich richtete, war die: „Sind Sie Aviateur ?" Ich nickte bejahend. Auch mein Name war offenbar schon bekannt, aber alles interessierte sie nicht so sehr wie die glücklich erworbenen 1000 Francs.
Als sich die erste Aufregung gelegt hatte, durchsuchte man meine Taschen und nahm mir alles ab, was ich bei mir hatte. Auch meine Uhr, die ich nicht wiedersehen sollte. Dann wurde telephoniert, und man schleppte mich durch den bekannten Hohlweg hinein in das Dorf. Es war stark zerschossen; auch jetzt pfiff von Zeit zu Zeit eine Granate über die zerstörten Dächer hinweg, um tief unten im Grund einzuschlagen. Dort stand ein kleines Schlößchen, wie sie in Frankreich viel zu finden sind, und während des ganzen Tages hatte ich Gelegenheit gehabt, zu beobachten, daßdies das Ziel unserer Artillerie war.
Ich wurde in ein Haus geführt, das man mit Sandsäcken geschützt hatte. Es ging ein paar Stufen hinab ins Kellergeschoß, wo sich der Bataillonsgefechtsstand befand. Qualmend saßen die feldmarschmäßig ausgerüsteten Leute eng zusammengepfercht.
Ein Major erschien in einer sauberen Uniform und machte ein paar witzige Bemerkungen, die von den Mannschaften freimütig erwidert wurden. Schließlich durfte ich mich auf die Pritsche setzen, ein Kapitän, der gebrochen Deutsch sprach, wurde herbeizitiert, und das erste Verhör begann. Man fragte mich, wann und wo ich abgeschossen worden sei. Ich gab ihnen zur Antwort, was ich mit Schlenstedt verabredet hatte, damit unsere Aussagen übereinstimmten. Sehr krank und schlecht mußich ausgesehen haben, denn der Kapitän brach das Verhör kurz ab und erkundigte sich danach, was ich seit dem Abschußgegessen hätte. Ich sagte ihm, daßich seit der Landung eigentlich gar nichts Eßbares gefunden hätte, und als er dies den zuhörenden Soldaten verdolmetschte, wunderten sie sich sehr. Spontan hielten sie mir von allen Seiten Lebensmittel entgegen. Jeder wollte mir Brot geben, jeder mich von seinem Wein trinken lassen. Gern ergriff ich eine Feldflasche und ließden guten roten Landwein durch meine ausgedörrte Kehle rinnen. Erst dann nahm ich das Brot und schlang es gierig herunter, ohne mich erst mit dem Kauen abzugeben. Ich hatte ja einen so entsetzlichen Hunger.
Aber bald schon bedauerte ich, von dem Wein getrunken zu haben. Er löste in mir eine so unwiderstehliche Müdigkeit aus, daßich mich kaum aufrecht zu halten vermochte. Als man mir noch mehr Wein anbot, bat ich um Wasser. Ich war wie ein kleines Kind, das erst zu essen lernen mußte. Nachdem ich mich etwas gestärkt hatte, wollten die Franzosen vor allem wissen, von welchem Flugplatz aus ich gestartet sei. Ich erzählte ihnen eine sorgfältig ausgedachte Geschichte. Selbstverständlich durfte ich nicht verraten, daßwir über Paris gewesen waren. Auch daßich Geschwaderkommandeur war, mußte peinlichst verschwiegen werden. Ich gab an, daßich lediglich bei den hinter unserer Front liegenden Geschwadern Leiter einer Wetterdienststelle war und nun einmal mitgeflogen sei, um mir endlich auch das EK II zu verdienen. Wir hätten dabei die Richtung verloren und notlanden müssen. Dieses Märchen war so gut erfunden, daßman es mir sogar glaubte.
Nach dem Verhör wurde wieder mit der nächsthöheren Dienststelle telephoniert. Gegen Mitternacht transportierte man mich weiter zurück. Durch das gleiche Drahthindernis, an demselben Posten vorbei, den ich schon einmal passiert hatte, ging es nun immer weiter nach rückwärts. Mein glückstrahlender Gefreiter wich mir nicht mehr von der Seite. Meine Arme waren mit zwei Gewehrriemen gefesselt worden, vor und hinter mir gingen zwei Mann. Bevor wir abmarschierten, hatte man mir sehr deutlich gezeigt, daßdie Gewehre geladen und entsichert waren. Man schien mich also für einen ganz gewiegten Schwerverbrecher zu halten. Aber der Grund für diese Vorsichtsmaßregeln waren die bewußten 1000 Francs, die erst ausgezahlt werden sollten, wenn ich dem Regimentskommando übergeben worden war. Darum marschierte der Gefreite auch immer wacker neben mir her, hielt mich am Handgelenk fest und paßte scharf auf, daßsich mir keine Gelegenheit bot, wieder zu entwischen.
Die Straße führte einen Berg hinauf. Unterwegs begegneten wir einzelnen Gruppen, mit denen meine Begleiter im Vorübergehen Worte wechselten. Man musterte mich mit halb mitleidigen, halb erstaunten, oft aber auch mit grimmig erbitterten Blicken. Dann kamen wir an starke Postenketten heran, die hinter Drahthindernissen auf und ab patrouillierten. Hier also lag der Regimentsgefechtsstand, der von einer starken Feldwache geschützt wurde. Es waren große Höhlen, die man in die Felsen hineingehauen hatte, eine Art geräumiger Katakomben, in die man mich hineinführte.
Ein jugendlicher Oberleutnant ließmich an seinen Tisch herantreten. Ihm mußte ich meine Geschichte noch einmal erzählen. Auch den Oberst sollte ich kennenlernen. Er sprach nur französisch, war wenig freundlich, und ich glaube, es war ein Anpfiff, der mir von ihm zuteil wurde, denn ich verstand natürlich nicht, was er zu mir sagte. Er war bereits zu Bett gegangen, hatte ein Pyjama an und schien wenig erfreut über die unliebsame Unterbrechung seiner Nachtruhe. Nach ein paar Minuten war ich entlassen und mußte mich in der Nähe der Wache auf eine Bank setzen. Der Oberst hatte sich wieder schlafen gelegt, der Oberleutnant war ebenfalls verschwunden, und nun war ich mit den Mannschaften allein. Sie durften sich nicht mit mir unterhalten, das gaben sie mir durch Zeichen zu verstehen, aber es waren doch anständige und gutmütige Burschen, die kameradschaftlich ihr Brot und ihren Wein mit mir teilten.
Der Wein und das Brot hatten mich wieder zu Kräften gebracht. Jetzt beherrschte mich nur der eine Gedanke, wie ich wohl am besten aus dieser Falle herauskommen könnte. Unauffällig suchte ich während des Gesprächs mit den Augen den Ausgang, aber vor der Höhle standen Posten, dort befanden sich auch Drahtverhaue —es war ausgeschlossen, hier zu entkommen. Außerdem tagte es bereits.
Wir hatten uns lange und recht gut unterhalten. Auch hatte ich ein Stündchen über den Tisch gebeugt schlafen können. Als von draußen das fahle Licht des neuen Tages hereindrang, kam der Adjutant wieder, stellte noch ein paar Fragen an mich und machte Notizen in das Aktenstück, das die auf seinen Befehl eintretenden Gendarmen bekamen, die mich kurzerhand mitnahmen.
Jetzt ging es zum Korpskommando. Das lag in einer Ortschaft, die erfüllt war von wild durcheinanderschwirrendem Leben. In diesem Abschnitt lagen hauptsächlich Amerikaner, denn sie beherrschten in ihren kleidsamen Uniformen das Straßenbild völlig. Beim Stab gab es einen Offizier, der glänzend deutsch sprach. Er vernahm mich und wollte durchaus wissen, wo sich der Flugplatz befand, von dem aus wir gestartet waren. Das sagte ich ihm selbstverständlich nicht und wurde nach kurzem Aufenthalt bei dem Korps den gleichen Weg zurücktransportiert, zu dessen Bewältigung ich so viele Nächte gebraucht hatte.
Kurz vor Compiegne bogen wir ab und strebten einem Dorf zu, das am Fuße jener Höhen lag, durch die ich mich geschlichen hatte, nachdem ich dem Posten glücklich entronnen war. Aus den Unterhaltungen meiner Begleiter konnte ich entnehmen, daßnun das Armeeoberkommando unser Ziel war. Immer war die Bezeichnung „Deuxieme Bureau" wiedergekehrt, und ich nahm an, daßes sich dabei um die Nachrichtenabteilung handeln müsse. Man führte mich in einen Garten, in dem ich sehr lange warten mußte, bis ein cholerischer Offizier erschien, der mich seine Überlegenheit spüren lassen wollte, indem er mich anschrie. Er ließmich vortreten, verlangte, daßich Haltung annähme, und krähte hysterisch weiter, weil ihm nichts gefiel, was ich machte.
Das war ein wenig angenehmer Zeitgenosse, der nach dieser Einleitung mit der eigentlichen Vernehmung begann. Er wollte vor allen Dingen etwas über die Stimmung bei unseren Truppen erfahren und meine Ansicht über den Kriegsausgang kennenlernen. Ich versicherte ihm, daßdie Stimmung ganz ausgezeichnet sei und ich felsenfest davon überzeugt wäre, daßwir siegen würden in dem gewaltigen Völkerringen. In Wirklichkeit war ich damals wohl etwas anderer Ansicht, aber das brauchte ich dem impertinenten Burschen nicht auf die Nase zu binden. Meine sicheren Aussagen behagten ihm wenig. Als ich ihm aber versicherte, daßwir siegen würden, ging er geradezu in die Luft. Er brüllte mich an, fuchtelte mir mit seiner Reitpeitsche vor dem Gesicht herum und krächzte mit übergeschnappter Stimme unaufhörlich: „Ja, Sie werden siechen, siechen werden Sie!"
Während die beiden mit meiner Bewachung betrauten Gendarmen saßen, mußte ich während des ganzen Verhörs stehen. Dann durfte ich weiter warten, um nachmittags wieder zu einer neuen Vernehmung gerufen zu werden. Zu essen bekam ich nichts. Ich hatte zwar noch ein Stück Brot, das mir die guten Frontsoldaten geschenkt hatten, und es bedurfte langer Bitten, ehe man mir endlich etwas Wasser zu trinken gab. Deutlich spürte ich es: je weiter ich nach hinten kam, desto schlechter wurde die Behandlung. Die Kerls waren anmaßend, frech und unverschämt. Hier hinten kannte man kein Mitleid und keine Kameradschaftlichkeit mit den Gefangenen.
Schließlich führte man mich zu einem Personenkraftwagen, in den ich mich setzen mußte, und dann ging es in rasender Fahrt weiter nach hinten. Wir kamen durch Compiegne, an dem Posten vorbei, der uns festgenommen hatte ... wieder sah ich die Stellen, wo Schlenstedt und ich uns verborgen hatten, wo wir hindurchgeschlichen waren. Immer ging es westwärts. Besorgt zählte ich die Kilometer, und je weiter wir uns von der Front entfernten, desto deutlicher wußte ich, wieviel schwerer eine erneute Flucht jetzt werden würde und welche Schwierigkeiten sich einem Marsch durch das Feindesland entgegenstellten.