NOTLANDUNG IN FEINDESLAND
Blargies war vernichtet, aber es wäre falsch gewesen, auf den Lorbeeren dieses Erfolges auszuruhen. Die Staffeln brannten darauf, zu neuen Taten eingesetzt zu werden, und dann ... es gab noch ein Ziel, das uns lockte: Paris, die Hauptstadt der Franzosen. Sehr weit war es nicht dahin, aber zunächst mußte einmal erkundet werden, welche Abwehrmaßnahmen der Feind zum Schutze dieser Stadt vor Angriffen aus der Luft getroffen hatte, ehe wir unsere ganze Kampfstärke zu einem Großangriff einsetzten. Zwei Maschinen wurden zu einem Erkundungsflug fertig gemacht. Es war gegen neun Uhr abends. Einem heißen Tage schien eine ruhige Nacht zu folgen, und als die Propeller angeworfen wurden, kam auch der Mond herauf.
Der Start klappte, Schlenstedt ging auf Kurs. Wenige Minuten später startete auch das zweite Flugzeug mit Falke, dem ausgezeichneten Staffelführer. Wir schraubten uns in die Höhe. Unter uns verglühten in regelmäßigen Abständen
die Leuchtgranaten, die uns den Weg wiesen. An der Front war es still, beinahe friedlich. Hinter den feindlichen Linien tiefes Dunkel, kein Licht, kein bellendes Abwehrgeschütz. Es war ein herrlicher Flug. Verabredungsgemäßwandten wir uns etwas nach Südosten, während Falke den Auftrag hatte,
Paris direkt anzufliegen. Im fahlen Licht des Mondes schimmerten die Flüsse silbern.
Man hätte vergessen können, daßKrieg war und wir zu blutigem Handwerk ausrückten, wenn nicht in der Nähe von Compiegne plötzlich ein heftiges Abwehrfeuer eingesetzt hätte. Aber es verstummte schnell wieder, als wir ungeschoren darüber hinweggeglitten waren. Beruhigend brummten die Motoren. Schwarz dehnten sich unter uns die weiten Wälder, die Paris vorgelagert sind, vor uns blinkte der charakteristische Seine-Bogen, und nun sahen wir im Nebeldunst weit hingestreckt die Stadt, die unser Ziel war. Als in der Gegend von Compiegne die Flaks zum zweitenmal ihr Abwehrfeuer in die Luft sandten, wußte ich, daßFalke im Anmarsch war, und wenige Augenblicke später begannen die Scheinwerfer zu spielen.
Das war aber kein Suchen und Ableuchten des nächtlich dunklen Himmels, das war ein schnelles Aufblitzen von drei Scheinwerfern, und wo sich die Strahlen trafen, dort kreuzte mein Freund Falke. Schnell hatte er seine Bomben abgeworfen, und nun konnten wir dasselbe Ziel anfliegen.
Aber —was war das ? Auch im Süden schnellten plötzlich die Lichtkegel empor; wieder diese drei gleichzeitigen Scheinwerferblitze, und gleich beim ersten Anleuchten hatten sie uns erwischt. Schon in der nächsten Sekunde krachten die ersten Schrapnelle. Verdammt, für den ersten Schußsaßen die verteufelt nahe! Noch ein paar Explosionen unmittelbar unter uns.
„Drücken, Schlenstedt, drücken !" Wir mußten aus diesem verteufelten Abwehrfeuer heraus. Aber noch hatten wir Paris nicht ganz erreicht, da knallte der rechte Motor ein paarmal hintereinander. Etwas mußte nicht in Ordnung sein. Kriechend tastete ich mich unten durch, war neben Schlenstedt, sah auf die Benzinuhren ... im rechten Falltank ist kein Betriebsstoff mehr. Die Uhr zeigt Null schon steht der Motor. Gottlob, noch läuft der andere. Schlenstedt kämpft einen Verzweiflungskampf mit der Maschine. Er mußdas Seitensteuer so stark wie möglich austreten und die Kiste auf die Seite legen, sonst trudeln wir ab und sind rettungslos verloren. In den nächsten Sekunden saust ungezielt der ganze Bombensegen, den wir mit hatten, in die Tiefe. Das Flugzeug mußleichter werden, und auch dann ist es noch fraglich, ob wir mit einem Motor wieder zurückkommen.
Unter uns die charakteristischen Straßenreihen von Paris. Mondschein darüber gebreitet. Plötzlich steigen Nebelschwaden empor. Künstlicher Nebel!? Aber wir haben kein Interesse dafür. Ein Motor steht. Wann wird der zweite aussetzen ? Rasend fällt der Zeiger der anderen Benzinuhr. Auch dieser Tank mußalso von Sprengstücken getroffen sein. Es riecht nach Benzin, aber die Rohrleitungen liegen unter dem Flügel und sind nicht zu erreichen.
Ich sitze neben Schlenstedt, der mit beiden Füßen unter gewaltiger Kraftanstrengung das Seitensteuer austritt. Schnell ist der Hebel des Hilfsseitensteuers eingesetzt, gegen den ich mich mit aller Kraft stemme. Jetzt hat der Pilot, der am Zusammenbrechen war, wenigstens etwas Entlastung und kann an dem Motor arbeiten. Er drosselt.
Aber nun verlieren wir zusehends Höhe. Immer tiefer sinkt unser Kahn. Ein Blick auf den Höhenmesser: 1000 Meter. über Paris waren es noch 3000 gewesen. Langsam, aber unaufhörlich geht es weiter hinunter. Nun ist nur noch oben im Falltank Betriebsstoff!
Tiefer und tiefer geht es. Ich weißnicht mehr, wie weit wir sind, denn ich hatte nicht beobachten können, was unter uns durchgezogen war. Aber eines wird mir klar: nach Haus kommen wir nicht mehr mit dem kleinen Rest Benzin, von dem noch dazu ein großer Teil an irgendeiner lecken Stelle der Zuleitung verlorengeht. Starr wird der Kurs nach Nordost gehalten. Wir müssen so nah wie möglich an die Front herankommen. In der Ferne sehen wir schon wieder die Leuchtkugeln unserer Signalkanonen in die Luft steigen. Wir sind also ungefähr halbwegs zwischen Paris und der Front.
Im Falltank sinkt die Betriebstoffsäule rapid. Der zweite Motor knallt. Nun ist es ausl! Ein paar Explosionen noch, dann verstummt er, und in derselben Sekunde werden wir herumgeschmissen. Das Seitensteuer ist ja vollständig ausgetreten. Wir reagieren rasch, aber in diesem Augenblick springt der Motor wieder an und schmeißt den Vogel nach der anderen Seite. Ein Verzweiflungskampf beginnt, die Maschine gerade zu halten. Aber das ist das letzte Aufbäumen vor einem bösen Schicksal, dem wir nicht mehr entgehen können. Die Front können wir nicht erreichen. Vielleicht würde es uns noch gelingen, den Motor zwei oder drei Minuten am Laufen zu halten, indem wir die Kiste auf den Kopf stellten, um dadurch noch etwas Benzin in die Zylinder zu bekommen. Das aber kostet Höhe; wir können ins Trudeln kommen.
Unser Schicksal ist besiegelt. Ich reiße die Zündung raus. Wir dürfen unsere Aufmerksamkeit nicht mehr an den Motor verschwenden, sondern müssen aufpassen, glatt zu Boden zu kommen. 500 Meter sind wir noch hoch. Tiefes Schweigen umgibt uns. Die Spanten pfeifen. Wir kommen tiefer und tiefer. Fernab fließt die Aisne, daneben weite Wiesen zwischen sanften Anhöhen. Voraus liegt ein Städtchen in friedlichem Schlummer. Wir drehen im Gleitflug etwas ab, denn man soll uns nicht beobachten. Tiefer, immer tiefer senkt sich die Maschine. Schrill kreischt der Fahrtwind in der Verspannung. Schlenstedt will nach links ausbrechen, aber dort sind Höhen. Ich falle ihm ins Steuer. Im gleichen Moment hat auch er die Gefahr erkannt, —jetzt sieht er die Wiesen, er drücktIch beuge mich weit aus dem Führersitz
hinaus und spähe angespannt nach unten. Wir fliegen über offenes Gelände, rasend schnell nähert sich der Schatten der Maschine dem Boden.
„Abfangen !" Schlenstedt zieht das Höhensteuer an, der Vogel schwebt über Grasspitzen, ein kurzes Durchsacken, ein Poltern ... wir sind glatt gelandet.
„Sind wir drüben ?" fragt er. „Nein!" Ich schüttle den Kopf. „Wir sitzen irgendwo zwischen Paris und der Front." Da fährt es mir durch den Sinn, und ich denke laut: „Jetzt habe ich den Pour le merite bekommen!" Mäuschenstill ist es auf der weiten Wiese. Selbst wenn man unser Niedergehen in dem nahen Städtchen bemerkt hat, kann es Morgen werden, ehe man uns entdeckt. Die Uhr zeigt kurz nach Mitternacht.
Wir haben keine Zeit, die Köpfe hängen zu lassen. Unser Flugzeug mußzerstört werden! Schnell sind die beiden Flugzeugzerstörer zwischen Motor und Öltank eingeklemmt. Wir zerschlagen die wertvollen Instrumente, wickeln die Munitionsgurte um die M.-G.s und legen sie auf die Zerstörer. Jetzt ist alles klar.
Wenn die Zerstörer scharf gemacht sind, wollen wir am Nordrand der Wiese in einem Wald Deckung suchen.
„Fertig ?"
Schlenstedt nickt. „Abreißen !" Der Pulversatz in der Zündschnur zischt. Die Zerstörer brennen. Nun aber weg! Wir laufen, was wir können, zu der Waldspitze. Wie lange ——wir wissen es nicht. Aufatmend lauschen wir in die Dunkelheit, warten .. . aber eine Explosion erfolgt nicht. „Schlenstedt, wir müssen zurück zur Maschine !" Wenn die Zerstörer nicht funktionieren, wollen wir wenigstens versuchen, mit unseren Leuchtpistolen in die Öltanks zu schießen. Vorsichtig gehen wir zurück. Im fahlen Mondlicht steht unser Vogel friedlich da wie auf unserem Flugplatz.
Da zischt ein Blitz auf, ein Knall ... wir werfen uns zu Boden. Fetzen fliegen hoch durch die Luft, ein zweiter Knall und im gleichen Augenblick brennt die Maschine lichterloh. Die Zerstörer haben die Öltanks aufgerissen, rasend schnell verteilt sich das Öl und rinnt hell brennend über die Tragflächen. Wenn jetzt jemand in der Nähe ist, sind wir verraten. Wir machen kehrt und laufen wieder auf den Wald zu, dessen Rand gespenstisch aufleuchtet. Hinter uns her knattert ein wildes Maschinengewehrfeuer.
Ein stiller Waldweg nahm uns auf. Erst als wir weit von unserer Landestelle entfernt waren, gönnten wir uns eine kurze Rast. Nun kam die Reaktion. Grenzenlose Traurigkeit erfüllte uns beide, und tausend Fragen stürmten gegen uns an. Was würde die Zukunft bringen ? Gab es eine Möglichkeit, der Gefangenschaft doch noch zu entgehen ? Hatte ich jetzt wirklich den Pour le merite bekommen ? Still war die Nacht, still der dunkle dichte Wald. Nebeneinander hingestreckt beratschlagten wir, was zu tun sei. Wir waren müde. Das wilde und ungewohnte Laufen hatte uns den Schweißaus den Poren gejagt. Noch trugen wir ja unsere unbequemen Fliegerkombinationen.
Das Gespräch verstummte. Jeder hing seinen Gedanken nach.
Ich preßte die Augen fest zusammen, und immer wieder sah ich das gleiche Bild: unser Kasino, die Kameraden, die Ordonnanzen, eine Flasche Sekt ... Wie gern hätte ich auf den Unglücksorden verzichtet I Dann schreckte ich auf. Die Träume zerstoben vor der rauhen Wirklichkeit.
Ich hatte Hunger! Verflucht, erst nach unserer Rückkehr wollte ich ordentlich zu Abend essen. Und nun —? Ja, wenn wir uns den Franzosen stellten, dann würden wir wohl etwas zu essen bekommen, aber . . . nein —wir wollten uns gegen das Schicksal stemmen, wollten uns nicht selbst aufgeben, denn noch bestand ja die Hoffnung, durch die feindlichen Linien hindurchzukommen und unsere Stellungen wieder zu erreichen.
Auf jeden Fall wollten wir es versuchen.
Doch zunächst wußten wir nicht einmal, wo wir uns befanden. Das Städtchen an der Aisne war so wenig charakteristisch gewesen und dann ... wir hatten ja keine Karten. Unsere Fliegerkarten konnten uns mit ihrem Maßstab 1:300000 kaum aus der Klemme helfen. Hier lag eine Stadt bei der anderen, und was man im Flugzeug in wenigen Minuten schaffte, dazu brauchen wir zu FußStunden und Tage. Die Nächte waren kurz in dieser Jahreszeit. Die Dunkelheit kam erst gegen elf Uhr, und bereits um drei wurde es wieder Tag. Verdammt wenig, um vorwärts zu kommen, denn am Tage zu marschieren, war vollkommen ausgeschlossen. Es wimmelte von Truppen, man würde uns aufgreifen. Nur schleichend konnten wir unsere Linien erreichen. Und dann —wir hatten nichts zu essen; unser Schuhwerk war zum Marschieren ungeeignet. Schon der kurze Lauf bis zu dieser Stelle was unseren Strümpfen aus Kriegswolle sehr schlecht bekommen.
Und wenn wir wirklich die vordersten Linien erreichten, dann war doch dort die Leere des Kampffeldes, da trommelte das Maschinengewehrfeuer seinen tödlichen Takt, da krachten die Granaten des ständigen Artilleriekampfes. Hatte es überhaupt einen Sinn, den Versuch zu machen ? Gab es eine Möglichkeit, durchzukommen ?
Ich sah Schlenstedt an. Stumm schüttelten wir uns die Hände. Wir würden kämpfen, auch auf fast verlorenem Posten als Freunde, Kameraden ... als deutsche Soldaten.
Ehe es weiterging, schafften wir uns Erleichterung für den beschwerlichen Marsch. Unsere Kombinationen behinderten uns nur. Aber sie wegwerfen ? Die Mainächte waren kühl. Not macht erfinderisch. Wir schnitten den unteren Teil der Anzüge ab. Jetzt behinderten sie uns nicht mehr beim Gehen, und wir bekamen ein Kleidungsstück, das den englischen Uniformen nicht unähnlich sah. Auch unsere Fliegerkappen wurden beschnitten und mit ein paar Handgriffen so umgewandelt, daßman sie für Franzosenmützen halten konnte. Das weiche Wollfutter der Hosenbeine rißich heraus. Schlenstedt wunderte sich. „Sie werden mir noch dankbar sein für diese Lappen." Und er war es auch.
Ich wußte, sehr bald würden sich bei ihm Fußschmerzen einstellen, wenn die Strümpfe endgültig durchgelaufen waren, denn er war lange nicht so widerstandsfähig wie ich. Darum nahm ich die Fetzen mit, denn wenn wir Flieger auch oft über die Fußlappen der Infanteristen gelacht hatten, jetzt durften wir den Segen dieser Tücher bald an unseren eigenen Füßen verspüren. Unsere Irrfahrt begann.
Vor allem war es wichtig, unsere Position festzustellen und charakteristische Zeichen zu finden, die mit unserer Karte übereinstimmten. Es ging durch Waldwege, bis wir eine Bahnlinie erreichten, die nach Süden abbog. Wir überschritten sie und marschierten weiter. Schwer hing die Müdigkeit in unseren Gliedern; es war still um uns her, nur unsere eigenen Schritte knirschten auf dem schmalen Weg, den wir entlang trotteten. Da kamen Tritte näher. Mit einem Sprung verschwanden wir im Graben und preßten unsere Körper ganz dicht an den Boden. Ein alter Mann ging vorüber, ein Arbeiter, der vor sich hinstierte. Er bemerkte uns nicht. Als er vorbei war, sahen wir uns vorsichtig um. In der Richtung, aus der er gekommen war, erhoben sich Häuser. Während Schlenstedt zurückblieb, tastete ich mich vor. Da lag eine beleuchtete Bahnüberführung und nahe dabei eine Blockstelle.
Wir verglichen unsere Karte. Stießen wir noch auf eine weitere Bahnlinie, so befanden wir uns auf dem richtigen Wege. Sie kam; wir hatten uns also in einem Gleisdreieck befunden und mußten in der Nähe von Verbery gelandet sein. Nun wußten wir wenigstens, wo wir waren. Weiter ging der Marsch. Bald würden wir die Oise erreichen, und es schien notwendig, einen genauen Operationsplan auszuarbeiten.
über 45 Kilometer waren es noch bis zur Front. Keine große Entfernung, wenn man ordentlich ausschreiten konnte. Aber schon graute im Osten der Tag. Wir mußten uns nach einem Unterschlupf umsehen.
Seitlich der Straße lagen Getreidefelder. Die Wälder würde man nach uns absuchen, nicht aber die mit 3/4 Meter hohem Getreide bestandenen Felder. Darum stiegen wir eine Höhe hinan und legten uns auf der Kuppe in ein Roggenfeld.
Hundemüde, mit schmerzenden Füßen, hüllten wir uns fester in unsere Jacken und schliefen eng aneinandergeschmiegt etwa eine Stunde lang.
Wüste Träume quälten mich, bis mich die ersten Strahlen der im Osten hervorkommenden Sonne weckten.
Während Schlenstedt weiterschlief, wachte ich und achtete darauf, daßwir uns durch Schnarchen oder Sprechen im Traum nicht verrieten. Gegen 6 Uhr etwa hörte ich unten auf der Straße Lastwagen rattern. Auch das eigenartige Klappern der Hufe trabender Kavallerie war zu vernehmen. Das waren Suchpatrouillen, die nach uns fahndeten. Aber das Kornfeld war ein guter Schutz.
Ich wurde jedoch neugierig und wollte mehr sehen, darum besteckte ich meine Kappe mit Halmen, die mir über das Gesicht weghingen. So konnte ich gut beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Nur die Flieger, die wir dauernd in der Luft herumschwirren sahen, machten mir Kummer. Wenn man die ebenfalls zum Suchen nach uns eingesetzt hatte, mußten sie uns sehr bald entdecken. Darum wechselten wir unseren Platz und krochen unter einen Baum.
Als wir gerade das schützende Ackerfeld verlassen hatten, stand uns das Herz vor Schreck fast still. Wir lagen dicht bei einem Fußweg, den wir nicht bemerkt hatten, und in flottem Gang näherte sich uns ein Soldat in hellblauer Uniform, das Mützchen nach hinten ins Genick geschoben. Nur nicht rühren Einen Augenblick spielte ich mit dem Gedanken, mich auf ihn zu stürzen und ihn zu knebeln, aber wenn der Überfall bemerkt würde, war es endgültig um uns geschehen. Gottlob, es ging gut. Ohne uns zu beachten, schritt der Soldat an uns vorbei. Nun waren wir gewarnt und gaben uns die größte Mühe, so vorsichtig wie möglich zu sein. Ringsum auf den Feldern begann das Leben. Meist waren es Frauen, die Feldarbeit verrichteten, und ganz in unserer Nähe begann ein Bauer ahnungslos zu pflügen.
Schlenstedt und ich sprachen kein lautes Wort mehr. Aber trotz aller Vorsichtsmaßregeln schien es uns doch besser, unseren Standort noch weiter in das Feld hinein zu verlegen.
Gräßliche Stunden des Wartens. Die tödliche Langeweile quälte uns fast noch mehr als der nagende Hunger. Als die Sonne jedoch höher stieg und ihre sengenden Strahlen auf uns herniederschickte, kam auch noch die furchtbare Pein des Durstes hinzu. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Die Glieder schmerzten von dem ungewohnt harten Lager. Das Klappern von Töpfen und Löffeln klang zu uns herüber. Eine Frau hatte dem Bauern bei unserem Feld das Mittagsbrot gebracht.
Wilder wurde der Hunger, aber wir mußten liegenbleiben, mußten durchhalten, mußten auf den erlösenden Abend warten. Und die Gedanken tasteten sich über die Trichter und Gräben der Stellungen hinweg zu unserem Geschwader, zu den Kameraden, die vergebens auf unsere Rückkehr gewartet hatten. In diesen Stunden der Langeweile, des Hungers und Durstes schmiedeten wir die tollsten Pläne. Wenn wir nun kehrt machten und nach Süden wanderten ...2 Wenn wir die Gegend um Chäteau Thierry zu erreichen trachteten ? In den letzten Maitagen —das wußte ich —würde dort eine große Offensive beginnen. Wenn die glückte, wenn wir uns so lange verborgen halten könnten, bis unsere Truppen kamen ? ——
Wenn ... wenn ... wenn ... Das waren mindestens zehn Tage. Und der Hunger, der Durst, die feindlichen Soldaten ! Nein, wir mußten eben weitermarschieren. Vor uns in der Oise-Ebene lag ein kleiner Ort. Ein Bahnhof, ein paar Gehöfte —Soldaten, die auf einem freien Platz stumpfsinnig exerzierten und Ehrenbezeugungen übten. Fern am Horizont zog sich der Wald entlang, in dem lange Fuhrparkkolonnen verschwanden, die auf dem nahen Bahnhof Lebensmittel in Empfang genommen hatten. Und zu uns herüber klangen aus dem Walde die Hörnerrufe, gellende Signale ... dort lag der Feind.
Auf der Straße wälzte sich unablässig die Schlange schwerbeladener Lastautos: Munition ... das verderbenbringende Eisen, das aus stählernen Schlünden zu unseren Kameraden hinübergeschossen werden sollte. Ganz unten im Tal glitzerte der Fluß, da war das kostbare Naß, nach dem unsere ausgedörrten Kehlen lechzten. Am Morgen schon hatten wir die Tautropfen in der hohlen Hand von den Gräsern gesammelt, den ganzen Tag über waren wir damit beschäftigt gewesen, aus den Ähren die unreifen Körner herauszulesen. Das schmeckte nicht gut, aber es linderte den Hunger, und —was noch wichtiger war —die stumpfsinnige Arbeit lenkte uns ab.
Dann aber senkte sich die Dämmerung. Unendlich lange dauerte es, bis die Dunkelheit vollends hereingebrochen war und wir den Weitermarsch wagen konnten. über das Land war eine tiefe, friedliche Stille gebreitet, als wir hinunter ins Tal schlichen, um uns am Flußufer auf das faulig und sumpfig riechende Wasser zu stürzen, das nicht nur den Durst stillte, sondern auch den Hunger. Der Weg war beschwerlich. Schlenstedts Füße waren geschwollen. Er konnte sich kaum noch vorwärtsschleppen. Ich gab ihm alle Fußlappen, und nun ging es wenigstens etwas besser. Tapfer bißer die Zähne zusammen, wußte er doch, daßnoch ein sehr hartes Stück Arbeit vor uns lag: der Marsch durch Compiene, das wir nicht umgehen konnten.
Der Ort kam näher, matt trotteten wir dahin, als plötzlich vor uns ein Posten auftauchte. Verschwinden konnten wir nicht mehr, hier mußte Frechheit helfen. Als wir an ihn herankamen, wechselte ich mit Schlenstedt ein paar französische Worte, und im selben Augenblick, als wir den Posten passierten, hörten wir hoch in der Luft ein
Summen und Brummen, das uns vertraut war. Unsere Nachtvögel, die zum ersten Male nach Paris flogen. Da bellten auch schon die Abwehrgeschütze, der Posten, der uns wohl für Arbeiter hielt, starrte mit uns zum dunklen Himmel hinauf ... und wir kamen glücklich an ihm vorbei.
Weiter. Aus Vorstadthäusern wurden Straßen. Wir waren mitten im Nordteil der Stadt. Hoch stand der Mond am Himmel. Ein Glück, daßwenigstens die eine Seite der Straße im Schatten lag. Schlenstedt hinkte. Ich trieb ihn vorwärts. Wir mußten durch ! Und über uns weg zogen unsere Großflugzeuge, die Paris mit Bomben belegen wollten I Da und dort öffneten sich Haustüren. Die Bewohner suchten bombensichere Keller auf.
Wir taten, als gehörten wir dazu, bis vor uns wieder ein Posten auftauchte und wir beim Näherkommen auf einer im Schatten stehenden Bank vor einem Haus sieben bis acht weitere Soldaten bemerkten. Sie sprachen erregt im Flüsterton, es roch nach Tabak und Zwiebeln, dem Kommißduft der Franzosen, und mit ein paar hingeworfenen französischen Brocken kamen wir auch hier ungeschoren vorbei.
Als wir kurz darauf eine Weggabel erreichten, wurde ich unschlüssig, welches von beiden der richtige Weg sei. Jetzt nach der Karte zu sehen war unmöglich. Wir waren mitten zwischen Feldwachen und Posten. Unser Weg bog scharf nach Süden, von links kam ein anderer herein. Hier stand ein Wegweiser, aber im Mondschein ließsich die Tafel nicht erkennen. Nur für eine Sekunde blitzte die Taschenlampe auf : Compiegne. Der also nützte uns nichts. Wir gingen den anderen entlang und waren kaum 300 Meter weit gekommen, als uns Tritte aufschreckten und etwas Glitzerndes aus dem Mondschatten trat.