Gefangennahme - In Kriegsgefangenschaft - Mißglückte Fluchtversuche - Die Flucht

 

 

So viele Kugeln waren in den Kriegsjahren bis zu diesem Zeitpunkt an mir vorbeigeflogen. Es gehörte schon eine ganz starke Dickfelligkeit dazu, um von all diesen Gefahren unbeeinflußt Tag für Tag, Monat für Monat und Jahr für Jahr immer wieder sich in derselben Art schwersten Gefahren auszusetzen und in den Gefahren selbst die Ruhe und Überlegung zu behalten. Nur dadurch war es möglich, ungerupft durchzukommen Um das alles durchzuhalten, war es notwendig, sich ganz bestimmte Grundsätze anzueignen und nach diesen Grundsätzen zu handeln. Zunächst machte ich mir alle die verschiedenen Möglichkeiten klar, die eventuell eintreten konnten. Da war die Möglichkeit, verwundet zu werden. Ich hatte schon zwei Verwundungen hinter mir und kannte diese Art des Ausgeschaltetwerdens recht gut. Es bestand natürlich die Möglichkeit, so verwundet zu werden, daß dadurch eine dauernde Beeinträchtigung fürs ganze fernere Leben gegeben wurde. Aber mochte da kommen was wollte, das Leben war für mich in jeder Form lebenswert.

Eine zweite Möglichkeit bestand darin, daß uns das Schicksal der Gefangennahme drohte. Hier hatte ich weniger Erfahrung, aber ich glaubte, daß auch im Gefängnis das Leben lebenswert sein könnte, gab es dann doch immer die Möglichkeit, auf eine Flucht zu sinnen.

Auch dieses Los schien mir im Hinblick auf die Möglichkeit, hier an der Wiedergewinnung der Freiheit arbeiten zu können, wesentlich besser als das dritte Los, das so viele jeden Tag ereilte: Im Kampf zu fallen. — Aber auch hiergegen half nur das eine: Ohne Furcht und Scheu allen Gefahren ruhig und fest ins Auge zu blicken und, falls die Kugel, die für mich bestimmt war, kam, mit einem Lächeln dem Ende entgegenzusehen.

Als auf meinem nächtlichen Erkundungsflug unter meinem Flugzeug in unmittelbarer Nähe eine Granate explodierte, da war mir das zweite der eben beschriebenen Lebensschicksale beschieden: die Gefangenschaft. Ein Sprengstück mußte die Benzinleitung getroffen haben; denn plötzlich sank der Benzinstand und der eine Motor blieb infolgedessen stehen. Mit dem anderen Motor und dem Rest des Benzins versuchten wir noch die Front zu erreichen, aber es war zu weit, und noch hatten wir nicht die Hälfte zurückgelegt, da stand in 500 Meter Höhe auch der andere Motor. Unter uns lag in stiller Ruhe im Mondenschein ein französisches Städtchen, über das wir im Gleitflug hinweg einer schönen Waldwiese zustrebten. Wir landeten still, ohne bei der Landung auch nur das geringste am Flugzeug zu beschädigen. Niemand war auf uns aufmerksam geworden, da uns lediglich das Pfeifen des Windes in den Spanndrähten des Flugzeuges hätte verraten können. Mein Flugzeugführer war nicht recht im Bilde, wo wir uns befanden und fragte mich, ob wir auf deutscher Seite gelandet wären. Ich mußte ihm leider sagen, daß wir noch etwa 50 bis 60 km bis zu unseren ersten Linien hätten. Er war hiervon ebenso wenig angenehm berührt wie ich, aber es half nun nichts, es hieß handeln. Auf 60 km hinter den feindlichen Linien, ohne Kenntnis der Gepflogenheiten des Gegners, ohne Kenntnis und Übung der Sprache des Landes! Das erste war, unser Flugzeug durfte nicht unversehrt in Feindeshand fallen. Dem war leicht abzuhelfen. Wir hatten zwei Flugzeugzerstörer dabei. Alles, was wir in der nächsten Zeit gebrauchen konnten, brachten wir vom Flugzeug weg und alles, was dem Feind nicht in die Hände fallen durfte, brachten wir so an, daß es bei der Explosion der Zerstörer mit vernichtet wurde. Unsere Zerstörer legten wir zwischen die Öltanks und die Zylinder der beiden Motoren und zogen die Abreißzünder zu gleicher Zeit ab. Dann machten wir uns so schnell wie möglich aus dem Staube.

Wir entschlossen uns, zum allermindesten zu versuchen, uns nach unseren Linien durchzuschlagen. Aus unseren Fliegeranzügen machten wir uns einen entsprechenden Marschanzug und begaben uns noch in derselben Nacht in nordöstlicher Richtung auf den Weg. Wir kreuzten einige Bahnkörper, und bald hatten wir die genaue Orientierung aufgenommen. Wir kamen nicht allzu schnell vorwärts, da wir uns ängstlich vor jedem Lebewesen in acht nehmen mußten und manchmal halbe Stunden im Straßengraben lagen, bis Geräusche, die wir vernommen hatten, wieder verstummten. Am Morgen legten wir uns in ein Kornfeld zur Ruhe nieder. Als wir von dem ersten Schlaf erwachten, quälte uns fürchterlicher Hunger, den wir mit allen möglichen Mitteln zu stillen versuchten, jedoch ziemlich vergeblich; denn um diese Jahreszeit war noch nichts gewachsen. Es war ein herrlicher Maitag. Die Sonne stieg empor, und ihre heißen Strahlen ließen uns unendlichen Durst verspüren, aber aus unserem Versteck konnten wir nicht hinaus. Wir beobachteten in unserer nächsten Umgebung die Rekrutenausbildung und sahen viele Autos auf den Straßen nach der Front ziehen und unsere Gedanken begleiteten sie. Wir mußten in unserem Versteck warten, bis die Nacht hereinbrach. Dann begaben wir uns wieder auf den Vormarsch und kamen schon um Mitternacht durch Compi4ne.

Wir waren glücklich, daß wir schon zwei Posten passiert hatten, und wurden allmählich immer unvorsichtiger. Wir leuchteten mit einer Taschenlampe einen Wegweiser ab und marschierten dann weiter. Dies Ableuchten mit der Taschenlampe hatte ein französischer Wachtposten gesehen, der uns daraufhin ein Halt zurief. Wir konnten den im Schatten stehenden Posten nicht erkennen. Ich versuchte, mich als englischen Captain auszugeben und rief ihm zu: Captain Cook. Dem Posten schienen wir aber wenig Vertrauen einzuflößen. Er trat aus seinem Mondschatten auf uns zu und nahm uns gefangen. Er bedeutete uns, daß wir auf die Wache mitgehen müßten, und gebot uns, durch ein Tor in einer Mauer in einen Vorhof einzutreten. Ich sah den Posten und sah hinter dem Tor die unabwendbare Gefangenschaft lauern. Wenige Sekunden trennten mich davon, und in diesen Sekunden bäumte sich mein Wille dagegen auf.

Ich bedeutete dem Posten mit höflicher Handbewegung, uns voranzugehen. Der Posten nahm sein Bajonett herab und in dem Moment, in dein er durch das Tor gehen wollte, gab ich ihm einen kräftigen Stoß und rannte davon. Mein Flugzeugführer, der neben mir stand, rannte nach der anderen Seite. Der Posten muß ziemlich betroffen von der wenig freundlichen Behandlung gewesen sein, denn die nächsten zehn Sekunden hörte ich nichts hinter mir; dann aber wurde es lebendig und ich ahnte, daß die Verfolgung von uns zwei Schwerverbrechern in vollen Gang kam. Trotzdem ich die größte Eile hatte, aus den letzten Straßen von Compi4ne herauszukommen, mußte ich mich vorher doch noch mal zu einem ziemlich langsamen Tempo bequemen. Von der anderen Seite kam mir ein Soldat entgegen, der mich anrief und mich nach dem nächsten Weg zum Bahnhof fragte. Den Sinn seiner Frage verstand ich wohl, eine Antwort geben konnte ich nicht. Ich tat zunächst, als verstände ich ihn nicht und blieb auf der anderen Straßenseite. Auf seine wiederholte Frage drehte ich mich um, zeigte in eine andere Richtung als die, aus der ich kam, mit den Worten: „Direktemang". Das war alles, was mir an Französisch in diesem Moment einfiel. Der Soldat begab sich recht unbefriedigt auf den Weg, und ich selbst machte mich aus dem Staube, bog in einen Garten ein und gelangte aus diesem Garten ins freie Feld. Ich war der ersten Gefangennahme glücklich entronnen.

Wo mein Flugzeugführer geblieben war, wußte ich nicht. Ich war jetzt allein. Das Alleinsein in solchen schwierigen Lebenslagen halte ich nicht gerade für schlecht, denn ein einzelner Mensch kämpft sich leichter durch und kann mehr plötzlichen Eingebungen folgen, als zwei. Hier ist immer erst eine gewisse Verständigung notwendig und diese wenigen Sekunden, die dazu erforderlich sind, genügen dann meistens, um sonst glückliche Einfälle zum Mißerfolg zu führen.

Noch einmal in dieser Nacht, als ich eben die große Landstraße überquerte, stieß ich auf eine Patrouille. Ein französischer Polizeibeamter fuhr mir in dem Moment, als ich die Straße überqueren wollte, direkt gegen den Bauch. Bis er selbst sich von seiner Verblüffung erholen konnte, vom Rad herunterkam und die ganze Situation richtig begriff, war ich bereits einige 50 Meter im Kornfeld verschwunden. Von da ab vermied ich ängstlich jede Straße, und das Überqueren der Straßen im Mondlicht machte ich nur auf dem Bauche kriechend.

Vier Tage lang kämpfte ich mich noch durch. In der fünften Nacht war ich dann glücklich in der vordersten Linie angekommen und brachte einen vollen Tag in Granattrichtern liegend zu. Da von deutscher Seite ziemlich heftig geschossen wurde und meist sehr unerwartet Streufeuer auf der ganzen Gegend lag, so konnte ich nur wenig von der Grabenbesatzung bemerken. Es herrschte außer dem Krachen und Pfeifen der Granaten Totenstille. Als der Abend kam, wurde es überall lebendig. Ich war kurz vorher auf einen Baum gestiegen, und unter mir zogen lange Kolonnen auf, die unmittelbar in nächster Nähe einen Schützengraben auszuheben begannen. Alles ging in verhältnismäßig großer Stille vor sich. Nun war der Moment gekommen, die letzten Hindernisse zu überwinden, um so in unsere Gräben zu gelangen. Einen als Verteidigungsstellung ausgebauten Hohlweg mußte ich dazu überqueren. Wie ich eben in diesen Hohlweg hineinsteige, höre ich plötzlich neben mir Schritte. Das "bleu horizon" der französischen Uniform war für diese Nächte so gut, daß ich die Leute, die neben mir gingen, nur hören konnte. Im Schatten des Grabens, überspült vom silbernen Mondlicht, waren die Leute tatsächlich nur in allernächster Nähe zu sehen. Eine Kolonne von 15 Mann war schon an mir vorübergegangen, da hörte ich plötzlich von vorne den Truppenführer etwas nach rückwärts sagen. Die Leute neben mir gaben in hier nicht wiederzugebenden Ausdrücken Antwort. Der Truppenführer kam daraufhin wieder zurück. Die Leute neben mir konnten mich nicht sehen. Ich hoffte dadurch, daß ich mich vollkommen ruhig verhielt, der Gefahr der Entdeckung zu entgehen. Aber der Gefreite tippte mich an und da fielen alle über mich her — ich war gefangen.

Von dem Moment meiner Gefangennahme bis zur geglückten Flucht vergingen sechzehn Monate. überall, wo ich unter guter Bewachung hingebracht wurde, war mein ganzes Sinnen und Trachten darauf gerichtet, wieder zu entkommen. Viele, viele vergebliche Fluchtpläne wurden geplant und geschmiedet. Über die Dächer, durch Drahthindernisse und unter der Erde. Alle waren sie zum Fehlschlagen verdammt, viele Kleinigkeiten waren übersehen worden, die dann den ganzen großen Plan in sich zusammenbrechen ließen.

Das Unangenehmste an der Gefangenschaft waren die ersten Monate. In dieser Zeit machte ich meist mit kleinen engen Gefängniszellen Bekanntschaft, in denen ich allein meinem Gedanken und Empfindungen überlassen war. Ich lernte dabei die ganze ungeheure Trostlosigkeit solcher Gefangenenzellen kennen, und auch wieder nur der Gedanke, daß Millionen anderer Menschen solche Zeiten überstanden haben und daß die Zeit meiner Gefangenschaft wohl nicht ewig dauern würde, half mir über das Niederdrückende hinweg. Die Ohnmacht und die Unmöglichkeit, von hier aus in dem großen Völkerringen der bedrängten Heimat helfen zu können, war der zweite bittere Tropfen in diesem Leidensbecher. Aber es half alles nichts. Mit den Tatsachen mußte ich rechnen und mußte sehen, wie ich, ohne wahnsinnig zu werden oder zu verblöden, diese Zeit überstehen konnte. Ich machte mir deshalb eine gewisse Zeiteinteilung zurecht, beobachtete den Gang der Sonnenstrahlen, die durch das hohe Fenster in meine Zelle fielen, und machte mir dabei eine Sonnenuhr zurecht. Damit gingen Stunden hin. Dann wiederum stellte ich meine Tische und Stühle aufeinander und kletterte oben ans Fenster, um die frische Luft zu genießen und meine Blicke in die blaue Himmelsferne schweifen zu lassen. Des Nachts beobachtete ich oft stundenlang den Gang der Sterne am Firmament.

Auf meinem Marsch nach der Front waren meine Kleider vielfach zerrissen worden. Ich bekam durch meinen Gefängniswärter Nadel und Faden und besserte dann stundenlang meine defekten Kleidungsstücke aus, worin ich es sogar zu einer gewissen Fertigkeit brachte.

In den ersten Wochen meiner Gefangenschaft erlebte ich viele Verhöre und alle möglichen Versuche seitens meiner Aufsichtsorgane, von mir auf alle mögliche Weise Nachrichten über unsere Truppen, über die Organisation auf unserer Seite usw., Näheres zu erfahren. Meinen Ausfragern war es aber bald klar, daß sie im offenen Verhör aus mir nichts herausbekommen würden. Sie haben es dann unter Anwendung aller möglichen Mittel versucht. Ob unter den vielen deutschen Gefangenen, mit denen ich in einem engen Hof täglich die frische Luft genießen konnte, mehr als einer oder zwei Spione waren, kann ich natürlich nicht beurteilen. Erkannt habe ich jedenfalls zweimal, daß die mit mir im selben Hof zusammengesperrten scheinbar deutschen Offiziere nur französische Spione in deutscher Uniform waren. Daß ich diese ebenso gründlich zu täuschen versucht und belogen habe, wie bei meinen ersten Verhören, bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung.

Erträglich wurde die Gefangenschaft erst an dem Tage, an dem ich in das Offiziers-Gefangenlager Montoire kam. Dort waren 250 deutsche Offiziere und 80 Ordonnanzen auf recht engem Raum zusammengesperrt. Da ich selbst Hauptmann war, hatte ich verhältnismäßig noch recht viel Platz und war mit meinem Schicksal zufrieden. Die ersten vierzehn Tage brachte ich damit zu, mich von den verschiedenen Gefängnissen, durch die ich geschleppt worden war, zu erholen. In der schönen Julisonne im Lehnstuhl im Freien liegend, war ich dessen nach vierzehn Tagen der Ruhe so überdrüssig, daß ich von da ab ernstlich an den verschiedenen Möglichkeiten einer Flucht zu arbeiten begann. Die verschiedensten Pläne wurden erwogen und wieder verworfen.

Ein Plan ging dahin, durch ein großes Loch, das wir in das Dach des Unterbringungshauses gemacht hatten, in einen der umliegenden Höfe zu kommen Durch einen herabfallenden Dachziegel wurde aber der Posten unterhalb zu früh aufmerksam, und so mußte vor Morgengrauen zum Rückzug geblasen werden.

Ein anderes Mal sollte es durch das Stacheldrahthindernis und den Drahtzaun gehen. Nach vieler List und Tücke war nach tagelanger vorsichtiger Arbeit eine Durchschlüpfmöglichkeit geschaffen. Wir waren zu dritt. Im Abend-dämmern, während die übrigen Gefangenen sich noch im Hof befanden, begann das Durchschlüpfen. Leutnant Sand mit der Drahtschere mußte noch einige Stacheldrähte beiseiteschaffen und war eben damit fertig geworden. Er hatte bereits den jenseitigen Rand des Stacheldrahtverhaues erreicht, bei dem ein Rondengang überschritten werden mußte. Als zweiter folgte ein anderer und als dritter ich. Wir sahen den ersten schon ans, Rande eines kleinen Flusses, durch welchen das Lager außer dem Stacheldraht noch von der Außenwelt abgeschnitten war. Diesen Fluß wollten wir später durchschwimmen. In diesem Moment nahte der Wachthabende auf dem Rondegang und entdeckte uns beide im Drahtverhau. Er machte natürlich sofort einen Höllenlärm und nahm uns, die wir im Drahthindernis steckten, gefangen. Da wir zu zweit waren, konnte er nur einen festhalten. Ich selbst entkam nach rückwärts wieder ins Lager. Da es dunkel war, hatte ich Hoffnung, von dem Posten, der mich nicht näher kennen konnte und noch nicht oft gesehen hatte, nicht wiedererkannt zu werden. Meine Kleidungsstücke waren im Drahthindernis natürlich stark zerrissen worden. Ich brachte die ganze Nacht damit zu, diese wieder so instand zu setzen, daß ich am nächsten Morgen beim Appell dadurch nicht verraten wurde. Der Wachthabende fand am nächsten Morgen mich selbst nicht heraus und glaubte in einem anderen den Ausreißer zu erkennen. Dieser bekam dann auch prompt einen Monat Gefängnisstrafe für meinen Ausbruchsversuch. Als ich später mich dem Kommandanten des Lagers als der Gesuchte meldete, kam ich zunächst auch für den anderen ins Gefängnis. Nach zwölf Tagen wurde aber die Tür geöffnet und mir bedeutet, ich sei frei und könnte wieder gehen.

Wie ich später erfuhr, hatte der Vorgesetzte des Lagerkommandanten meine Aussagen, die den dienstlichen Aussagen eines französischen Soldaten gegenüberstanden, nicht als wahrheitsgetreu anerkannt. Ich mußte deshalb froh sein, nun nicht neben dem unschuldig Eingelochten auch noch wegen Belügens ins Gefängnis gesperrt zu werden.

Ein anderes Mal hatten wir in wochenlanger Arbeit von einer der Baracken aus einen langen, langen Tunnel gegraben. Als der Tunnel so weit fertig war, daß in der Nacht nach oben durchgebrochen werden konnte, und die Aussicht bestand, von dort aus dem Lager zu entkommen, wurde die Ausbruchs-Abteilung zusammengestellt. Am Abend des Tages vor dem Ausbruch entdeckten aber die Aufsichtsorgane, die überraschend einen Appell abhielten, den ganzen Plan, beschlagnahmten alle die schönen Vorräte und sperrten alle diejenigen, die verdächtig waren oder irgendwie unvorsichtig ihre Teilnahme verraten hatten, einen Monat ins Gefängnis. Ich selbst wer wieder glücklich entschlüpft und bekam von den aufgesparten Fluchtvorräten die Schokolade zu essen.

Ein anderer Fluchtversuch zu zweien sollte auf dem nächsten Wege über die Mauer hinweg mit einer Leiter, die der Lampenzünder tagtäglich benutzte, ausgeführt werden. Ich war der zweite; mein Partner war bereits über die Mauer geklettert, und ich war eben im Begriff, auch an die Leiter heranzutreten, um über die Mauer zu steigen und dann die Leiter nachzuziehen, da fiel jenseits der Mauer ein Schuß. Mein Partner war einem uns nicht bekannten Posten hinter der Mauer in die Hände gelaufen. Es war für mich nicht besonders schwer, kehrt zu machen und unerkannt ins Lager zurückzukommen. Auch hier bekam ich die Schokolade zu essen, während mein Kamerad die vorgesehene Rate Gefängnis absitzen mußte.

Von da ab kristallisierte sich bei mir die Erkenntnis, daß ein Fluchtversuch nur Aussicht auf Erfolg haben könnte, wenn er allein unternommen würde und niemand im Lager davon Kenntnis erhielt.

Bei all den vergeblichen Fluchtversuchen war eine ganze Menge Zeit verstrichen. Zwischendurch war der 9. November 1918 gekommen. Die Hoffnung, bald in die Heimat zurückkehren zu dürfen, schwand von Tag zu Tag, und die Zustände wurden in den traurigen Wintertagen schlimmer denn vorher.

So tauchten mit dem kommenden Frühling wieder neue Pläne auf, diesmal allein die Flucht zu wagen. Es wurden von mir nur diejenigen Leute eingeweiht, von denen ich für meinen Plan Unterstützung haben mußte. Nicht einmal meine Stubenkameraden erfuhren davon.

Es war an einem schönen Abend mit Vollmond im September 1919, als die Stunde der Flucht gekommen war. Die Vorbereitungen waren bis ins kleinste getroffen.

Kurz nachdem der Wachoffizier, welcher allabendlich die einzelnen Unterbringungsräume mit dem Dolmetscher abzugehen hatte, bei mir durchgekommen war, ging ich ans Werk. Mein Zimmer lag im ersten Stock. Daneben waren andere kleine Räumlichkeiten, in denen auch nur je zwei Mann untergebracht waren. Ich hatte vorher schon zwei Decken in dem einen Zimmer vorbereitet und begab mich, unmittelbar nachdem der Offizier unseren Lagerteil -verlassen hatte, in den nächsten Raum, band dort schnell zwei Decken zusammen und bat die Insassen dieses Zimmers, mir die Decken zu halten. Ich selbst schwang mich über die Fensterbrüstung hinaus und ließ mich an den Decken in den offenen Hof hinab. Dort wartete ich hinter einem Gebüsch, bis der Offizier quer über den Hof nach den anderen Wohnräumen ging. Hinter ihm ging ich so frech wie möglich in der Richtung nach der Hauptwache zu. Von dort waren in diesem Moment alle Posten außerhalb aufgezogen, so daß jetzt am wenigsten Posten zu finden waren. Angesichts aller Posten ging ich dann in einen Stall, der an das Gebäude der Hauptwache grenzte, holte dort einen Besen mit langem, langem Stiel heraus und kletterte nun an der Ecke an der Dachrinne hoch, um über das Dach des Stalles in den nächsten Hof zu kommen. Das Hochklettern war gar nicht so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich stützte mich auf den Besenstiel und erreichte mit Mühe einen der letzten Haken, an dem ich mich ganz hochzog. Während ich dort oben auf dem Dach war, marschierte unten Posten auf Posten an mir vorbei. Alle Posten schauten aber, wie ich dies schon vorher beobachtet hatte, nicht in diese Ecke, sondern nach dem Lager-Innern. Schließlich kam auch der letzte Posten mit dem revidierenden Offizier, dem Dolmetscher und dem Schließposten unter mir vorbei. Daß sie mich nicht sahen, war für mich ein unbeschreibliches Glück.

Nachdem ich auf dem Dach abgewartet hatte, ob sich in dem Lager irgend Etwas Verdächtiges rührte, das auf die Entdeckung meiner Flucht schließen ließ, begab ich mich auf 'dieselbe Art, wie ich hinaufgestiegen war, in den angrenzenden Garten. Mit aller nur möglichen Vorsicht ging ich zu Werke. Zunächst stellte ich fest, daß das Haus, in dessen Garten ich mich befand, nicht bewohnt war. Der Eigentümer war anscheinend noch zur Erholung an der See. Ein Tor nach dem offenen Marktplatz war verschlossen. Ich sah mich um und suchte nach einer Möglichkeit, um vielleicht über die Dächer der angrenzenden Häuser weg ins Freie zu kommen. Aber hier war es gefährlicher als nach dem Marktplatz zu. Den Besen versteckte ich in einer Wagen-Remise, in der ich einige Kisten fand. In eine dieser Kisten mit dünnwandigen Brettern packte ich meine Uniform und zog sozusagen Zivil an. Ich hatte zweierlei Hosen, einen Lüsterrock, eine Zivilweste und ein Kakihemd, meinen Uniformrock und eine Sportmütze, die ich mir selbst gemacht hatte. Was ich nicht brauchte, packte ich deshalb in die Kiste.

Die einzige Möglichkeit, gut und ohne großes Aufsehen aus meinem Versteck hinauszukommen, war durch das Tor in der Durchfahrt. Dazu mußte ich es aber aufreißen. Auf dem Marktplatz selbst war gerade das halbe Städtchen Montoire versammelt. Schräg gegenüber der Durchfahrt war ein kleines Kasperl-Theater, vor dem eine Unmenge Leute saßen und in dem eben ein scheinbar sehr lustiges Stück gegeben wurde. Ich wartete einige Minuten an dem Tor und hatte bald festgestellt, daß es möglich sein würde, dieses gewaltsam aufzureißen. Da erklang plötzlich das Rattern von zwei Wagen auf dem holprigen Pflaster. Ein Wagen war schon vorbei, und der zweite kam gerade. Dieses Geräusch erschien mir sehr geeignet, den Lärm, der durch das Aufreißen des Tores verursacht werden müsse, zu übertönen. Ich riß daher das Tor auf und ging seitlich der fahrenden Wagen auf den Marktplatz hinaus. Mit meiner Kiste auf dem Rücken marschierte ich nun mitten auf der Straße weiter aus Montoire hinaus. Ich hatte die Möglichkeit, mich im Schatten zu bewegen, aber dort wäre ich sicher mehr aufgefallen und den Leuten verdächtiger vorgekommen, als mitten auf der Straße. Ich wich den Leuten auch gar nicht aus, sondern brummte etwas vor mich hin. Auf den Gedanken, daß ich ein deutscher kriegsgefangener Offizier aus dem Lager sei, sind sie jedenfalls nicht gekommen, sonst hätten sie ja Lärm hinter mir geschlagen. So kam ich aus dem kleinen Städtchen, in dem unser Gefangenenlager lag. Mit meiner Kiste marschierte ich nun eine halbe Stunde weiter bis zum nächsten Dorf, wo eine Brücke über die Loire führte. Ich machte mir aus meinem Waffenrock ein Bündel. Meine Infanterie-Mütze warf ich in den Fluß und sah sie davonschwimmen.

Nachdem ich auch dieses Dörfchen hinter mir hatte und nichts sich rührte und kein Lärm zu hören war, setzte ich mich zunächst einmal hinter eine Hecke am Weg und ruhte mich aus. Ich muß sagen, daß ich doch ziemlich erregt war und daß mir von all den letzten Ereignissen noch das Herz klopfte. Der Mond stand am Himmel und ich hatte wirklich vergessen, wo nun meine Richtung war. Im Flugzeug hätte ich diesen Zustand als „verfranzt" bezeichnet. Hier hatte ich aber ja Zeit, so lange sitzen zu bleiben, bis ich wieder genau wußte, in welcher Richtung ich zu gehen hatte. Nach zehn Minuten wurde mir auch wieder alles klar. Ich sah den Polarstern, sah, wie der Mond nach Westen vorschob, und hatte dann auch die Richtung, in der ich meine Heimat wußte, die Ostrichtung, und in dieser Richtung lief ich nun die ganze Nacht weiter. Es war eine herrliche Mondnacht, so schön, wie die schönsten Nächte, die ich als Nachtflieger je erlebt habe. Einsame Ruhe lag über dem Land. Ich kam durch Dörfer und Gehöfte, Hunde schlugen an und ihr Bellen verklang im Weitermarsch. So kam ich dann an die Straße, die quer zu meiner Fluchtrichtung von Verdome nach Tour führte. Hier legte ich mich zunächst einmal hinter ein dichtes Gebüsch am Wege nieder, um den Morgen abzuwarten. Trotz der starken Ermüdung fand ich aber nur kurzen Schlaf. Ich hatte Angst, durch Schnarchen Vorübergehende auf mich aufmerksam zu machen. Der Morgen kam, und selten habe ich in meinem Leben einen so wundervollen Sonnenaufgang gesehen. Der ganze östliche Himmel von Nord nach Süd war eine rosa Kugel, die die blaue Silbernacht vor sich her nach Westen trieb.

Bevor noch die Sonne selbst wie ein leuchtendes Glutmeer auftauchte, kamen die ersten Bewohner die Straße entlang gepilgert. Ich hatte meinen Plan, direkt über die zerstörten Gebiete hinweg nach Holland zu marschieren, aufgegeben. Froh und glücklich über meine neue Freiheit wählte ich mir einen schönen Weg für meine Reise. Den Süden Frankreichs und die Schweiz hatte ich ja noch nie gesehen, und dahin lenkte ich meine Schritte. Ich lief zunächst einmal in entgegengesetzter Richtung, als die, in der ich die Heimat wußte, um mich dann später an einem Kanal zurechtzufinden. Am ersten Tage wäre ich auf den Flöhen, die ich zu überqueren hatte, in der gräßlichen Sonnenhitze ohne Wasser beinahe verdurstet. Ich getraute mich nicht, in die Häuser zu gehen und um Wasser zu bitten, und dieses war nur aus tiefen Ziehbrunnen zu bekommen. Vier Tage marschierte ich so. Bei Nacht schlief ich in den Wäldern und auf Feldern, bei Tag ging ich weiter. Oftmals geriet ich in die größte Gefahr, entdeckt zu werden, häufig dadurch, daß ich der Landessprache nicht mächtig war, teils auch dadurch, daß ich mir in den Städten Kleinigkeiten zu kaufen versuchte.

Ich hatte auf meinem Vormarsch auf den verschiedenen Bahnhöfen die Gebräuche des Lösens einer Fahrkarte studiert und mich über das Nachsehen der Züge orientiert, so daß ich am Nachmittag des vierten Tages versuchen konnte, meine Reise mit dem schnelleren Beförderungsmittel, der Eisenbahn, fortzusetzen. In Blois kaufte ich mir zum erstenmal eine Fahrkarte nach Bourges. Ich schloß mich im Abteil einer Familie an und kam so ganz gut an mein Ziel. Von dort aus löste ich mir am nächsten Morgen, nachdem ich eine Nacht voll Angst in Bourges zugebracht hatte und dabei bald von einem Posten entdeckt worden wäre, eine Fahrkarte bis Lyon. Noch am Abend desselben Tages hatte ich alle weiteren Fahrtmöglichkeiten nach der Schweizer Grenze studiert und mir auch wiederum unerkannt eine Fahrkarte bis Annemass gelöst. Ich konnte natürlich nur Fahrkarten nach solchen Orten lösen, deren Namen ich auch einigermaßen aussprechen konnte. Die Fahrt von Lyon nach der Schweizer Grenze zu war für mich etwas gefährlich. Ich wurde verschiedentlich angesprochen, ohne den Fragern antworten zu können. Jedesmal drückte ich mich dann in ein anderes Abteil des Zuges. Während der Fahrt bis Belgard mußte ich mit einer Paßkontrolle rechnen. Aus den Gesprächen der Leute entnahm ich, daß hier bei Belgard eine Paßkontrolle sein müßte. Eigentlich hatte ich die Absicht, schon vor Belgard auszusteigen, aber als ich aus dem Fenster sah, bemerkte ich, daß der Weg zwischen engen Felsen durchführte und ein Verlassen des Zuges ohne Vorzeigen der Fahrkarte, oder ohne mit Menschen in Berührung zu kommen, wohl nicht möglich war. So kam ich schließlich in Belgard an. Es blieb mir nicht viel Zeit zu überlegen, ob ich mich in dem Zug, unter oder auf ihm verstecken konnte. Der Zug war von Zollbeamten und Polizisten mit Hunden umstellt und es war wohl nicht möglich, sich im Zug länger aufzuhalten. Ich wußte auch nicht, ob der Zug über die Schweizer Grenze nach der Schweiz fuhr. Beinahe war ich der letzte, der den Zug verließ, und es blieb mir weiter nichts übrig, als dem Menschenstrom nachzugehen. Durch eine Unterführung kamen wir in eine große Wartehalle, in der ein Holzzaun so angebracht war, daß alle Leute hintereinandergehen mußten, und am Ende dieses Durchgangs stand die Paßkontrolle. Es waren dort drei Polizisten, die die Pässe aller Durchgehenden ansahen. Ich hatte keinen Paß. Vor mir gingen einige Bauersfrauen, die umständlich ihre Pässe zurecht richteten und in der Hand hielten. Ich sah diese Pässe und wünschte mir auch einen. Wenn ich bis zu den Polizisten keinen hatte, war meine Reise zu Ende.

Am Tage vorher hatte ich mir eine Zeitung für zehn Centimes gekauft, indem ich dem Zeitungsverkäufer das Geld hinhielt und die Zeitung nahm, ohne dabei zu sprechen. In dieser Zeitung war hinten eine Annonce, und diese Annonce hatte etwas Ähnlichkeit mit dem Text und dem Format des Passes, den die Bauersfrauen in der Hand hielten. Ich legte die Zeitung nun so zusammen, daß nur diese Annonce zu sehen war, und hielt meine Fahrkarte an die Stelle, wo sich in dem Paß das Bild befand. Für den oberflächlichen Beschauer sah es wirklich wie ein Paß aus. Ich drängte mich nun zwischen die Bauersfrauen. Mein Anzug war so, daß ich wohl zu ihnen gehören konnte. Die Polizisten kamen. Auf der einen Seite stand einer und auf der anderen Seite die beiden anderen hintereinander. Alle Pässe wurden nachgesehen. Die Frauen zeigten eben die Pässe vor. Ich hatte meinen Paß in der rechten Hand, schaute den einen Polizisten an und hielt den Paß dem nächsten hin. Als ich am ersten Polizisten vorbei war, hielt ich den Paß dem ersten hin und schaute den zweiten an — und ich war durch die Kontrolle. Ich selbst war über diesen Ausgang eigentlich etwas verblüfft; denn ich hatte schon überlegt, wie ich mich jetzt taub und stumm stellen wollte, um allenfalls Gelegenheit zu haben, während des Transportes zur Polizeiwache oder nach dem Gefängnis wieder zu entkommen. Nach diesem Erfolg war ich allerdings recht zuversichtlich geworden. Ebenso gut kam ich dann mit meiner Fahrkarte durch die Bahnsperre.

In Belgard selbst führte mein Weg über eine Brücke, die durch einen Militärposten bewacht war. Ob es da notwendig war, einen Paß vorzuzeigen oder nicht, weiß ich nicht. Ich kam jedenfalls auch über diese Brücke, indem ich so auf den Posten zuging, daß er mir fast ausweichen mußte. Da es völlig dunkel war und auch regnete, wußte ich natürlich nicht, wo jetzt der Weg weiterging. Eine Orientierungsmöglichkeit nach der Himmelsrichtung war vorläufig nicht vorhanden. Ich wartete deshalb den Tag ab. Dann marschierte ich nach einigen ähnlichen Zwischenfällen, wie bei der Paßkontrolle, nach der Grenze. Die ca. 20 Kilometer, die ich noch zu laufen hatte, nahmen so ziemlich den ganzen Tag in Anspruch. Als es Abend wurde, kam ich in die Nähe der Grenze, welche an dieser einen Stelle durch die Rhöne gebildet wurde. Ein starkes Gewitter war aufgezogen, dicker Regen fiel und finstere Nacht brach herein. So konnte ich mich unbemerkt der Grenze nähern und hatte dabei noch den Vorteil und das ungeheure Glück, daß bei diesem Sturm kein Wachtposten sich im Freien aufhielt. Ich kam durch Ortschaften, die ich nur im Licht der zuckenden Blitze erkennen konnte. An der Rhöne legte ich mein bißchen Proviant und alles, was nicht unbedingt notwendig war, ab und wollte zunächst einmal den Versuch machen, die Rhöne zu durchschwimmen Bei diesem Versuch wurde ich von den reißenden Fluten in den Strom gerissen. Es war das beste, nun zu versuchen, das andere Ufer zu erreichen. Es war mir fast unmöglich zu schwimmen. In den Fluten wäre ich bald umgekommen, da mein kleines Bündel, das ich mir auf den Kopf gebunden hatte, meinen Kopf ins Wasser drückte. Erst als ich das Bündel vom Kopf gerissen hatte und nebenher zog, konnte ich schwimmend das andere Ufer erreichen. Dort stellte ich mich auf der Gendarmerie-Station, von wo ich dann am nächsten Tage dem deutschen Generalkonsulat zugeführt wurde. Die Freude, die ich nach der geglückten Flucht empfand, konnte nicht größer sein als die Freude, die uns beseelte, als wir in Greenly Island am Morgen nach der Landung nach tiefem Schlummer erwachten.

 

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