NEUE FLUCHTGEDANKEN

 

So begann auch ich wieder, mich mit Fluchtgedanken zu tragen. Ich hatte viel gelernt. Die mißglückten Versuche hatten mir deutlich gezeigt, worauf es ankam. Kurz vor Waffenstillstand war ein Jagdflieger ins Lager gekommen, der bekannte und erfolgreiche Pour-le merite-Flieger Menckhoff.

Wir hatten uns zusammengetan und viele Pläne geschmiedet, aber sie dann doch immer wieder fallen lassen, da wir merkten, daßes wenig Zweck hatte, etwas zu zweit zu unternehmen. Einer war doch immer tüchtiger als der andere und behinderte den Kameraden. Machte einer eine Dummheit, mußte auch der andere mit ihm büßen, und wo einer durchkam, da war es noch lange nicht gesagt, daßauch zwei unauffällig passieren konnten. Wenn man aus dem Lager raus war und die eigentliche Flucht begann, dann war es weit sicherer, sich allein durchzuschlagen.

Allerdings —so eine Flucht ganz allein, nur auf sich gestellt,

war eine verflucht langweilige Sache. Aber gerade darin lag das Geheimnis, das allein zum Erfolg führen konnte : nur, wer sich allein hinauswagte, wer den ungeheuren Willen und die Selbstüberwindung dazu aufbrachte, der hatte Aussicht auf Erfolg.

Menckhoff und ich erkannten das. Wir wollten uns helfen. Jeder dem anderen, aber den Weg in die Freiheit, den sollte jeder für sich selbst ganz allein gehen. Nur eines hatten wir ausgemacht. Wir wollten uns darüber verständigen, wann wir unsere Pläne zur Durchführung brachten, damit wir nicht in Kollision gerieten. Menckhoff hatte kein Geld, während ich 120 Franken französisches Geld besaß, und ich versprach ihm, daßich ihm die Hälfte meiner Barschaft zur Verfügung stellen würde.

Als ich zwei Tage im Lager von Montoire sur Loir war, hatte ich einen fast verzweifelt zu nennenden Fluchtplan gefaßt, der mit etwas Glück einem allein die Freiheit bringen konnte. Achtzig Prozent

standen dagegen und nur zwanzig dafür. Darum setzte ich diesen Plan bisher auch niemals in die Tat um. Jetzt sollte es geschehen. Wer weiß, wie lange es noch dauerte, bis man uns in die Heimat zurückschickte; das Leben im Lager war unerträglicher geworden denn je. Und dann der Gedanke, zurücktransportiert zu werden, die Rückkehr als eine Gnade der Franzosen empfangen zu müssen —das erschien mir so traurig, so unheldisch, so besiegt. Ich wollte ihnen diesen Triumph nicht gönnen, sondern alles dransetzen, mir die Freiheit selbst zu erkämpfen.

Dort, wo allabendlich die Ordonnanzen das Waschwasser vom Brunnen holten, stießen zwei Gebäude im Winkel aufeinander. In dem einen war unten das französische Wachtpersonal untergebracht. Darüber befand sich die Wohnung des Lagerkommandanten. Die Fenster seines Wohn- und Schlafzimmers blickten auf den Brunnen, während sich an der Hinterkante ein nicht allzu hohes Gebäude anschloß. Dort war eine Küche für die französischen Mannschaften, und an diese wieder lehnte sich ein überdachter Vorraum, eine Art Remise an, in der sich allerhand Gerümpel befand. Unter dem gleichen Dach war der Stall für das Lagerpferd und die beiden Polizeihunde, die allabendlich freigelassen wurden, um Gefangene aufzuspüren, die flüchten wollten.

Von dieser Ecke aus sah man weiter hinter diesem Stall noch ein Giebelhaus angebaut, das von Bäumen überragt wurde. Wenn diese Bäume gerade kein Laub hatten, konnte man in der Ferne den Turm eines niedlichen Kirchleins erblicken. Die Ecke schien mir für die Flucht besonders geeignet.

Wenn zwei unserer großen Ordonnanzen am Brunnen standen, so glaubte ich, daßich eskaladierend, wie ich es früher bei den Pionieren gelernt und auch mit unserer Zimmerordonnanz, die mir vor allem behilflich sein sollte, geübt hatte, den Mauervorsprung erreichen konnte. Von dort aus müßte ich eben sehen, wie ich weiterkam. Das war im Grunde der ganze Fluchtplan.

Schwieriger schon schien mir die Frage, wann ich mein Vorhaben ausführen sollte. Es mußte zu einer Zeit sein, zu der die Ordonnanzen zum Brunnen gingen, um Wasser zu holen, aber auch zu einer Zeit, zu der die Franzosen ihre Küche nicht benutzten, sonst konnten sie vielleicht auf die Schnapsidee kommen, ebenfalls Wasser zu holen. Kurz vor dem Abendappell schien es mir am günstigsten.

Dementsprechend mußten alle Vorbereitungen getroffen werden. Wenn ich kurz vor dem Appell auf das Dach kletterte, war natürlich wenige Minuten später bei der abendlichen Kontrolle mein Verschwinden entdeckt. Hier gab es nur einen Ausweg: Ich mußte einen Stellvertreter haben, und zwar eine Puppe.

Das erschien gar nicht so schweirig. Man brauchte nur ein paar Hosen auszustopfen, einen Waffenrock und Handschuhe, schon war der untere Teil fertig. Mit dem Kopf wurde es schon schwieriger. Ich setzte mich mit dem bekannten Maler Dornhecker, der sich bei uns im Lager befand, in Verbindung. Dornhecker kam zu mir auf mein Zimmer, nahm eine alte Unterhose, stopfte sie mit allem möglichen aus, bis sie ungefähr die Form meines Kopfes hatte und man meine Mütze daraufstülpen konnte.

Dann modellierten wir aus Pappe meine Ohren, die Nase, den Mund und die Augen ——alles tipptopp und mit genauen Abmessungen. So entstand eine tadellose Plastik. Am nächsten Tage brachte Dornhecker seinen Malkasten mit, Augen, Nase und Backen wurden naturgetreu angestrichen und die Augenbrauen aus echten Haaren gefertigt. Allmählich entstand auf diese Weise ein ganz richtiger Köhl.

Der „künstliche Mensch" war fertig. Nun mußte ich ihn selbstverständlich meinen Zimmerkameraden vorstellen und sie in meinen Plan einweihen, denn es kam darauf an, daßsie täglich, wenn der Offizier zur Abendrevision an unserer Tür vorbeikam, schon jetzt immer die gleiche Aufstellung einnahmen. Vorsichtshalber hatte ich auch die Zimmerlampe so gehängt, daßunsere Gesichter im Lichtschatten waren.

Plötzlich wurden wir alle recht militärisch gegen die Franzosen. Wenn die Tritte des revidierenden Offiziers im Treppenflur ertönten, hatten wir schon die Hand an der Mütze, während es bisher immer so gewesen war, daßwir erst in dem Augenblick, als der Offizier abzählte, grüßten. Na, von meiner Puppe konnte ich aber wirklich nicht verlangen, daßsie im richtigen Augenblick auch noch die Hand salutierend an die Mütze legte. Und damit es im entscheidenden Moment nicht auffiel, gewöhnten wir die Franzosen langsam aber sicher daran, daßwir schon grüßend dastanden.

So kam der Tag der Entscheidung heran, als etwas Unerwartetes eintrat. Menckhoff kam zu mir und sagte : „Ich brauche Geld !" Nichts weiter. „Bis wann spätestens ?" —„Bis sechs ..."

Jetzt wußte ich, daßer an diesem Abend zu fliehen beabsichtigte. Ich sagte nicht, daßich etwa eine Stunde später verschwinden wollte,

drückte ihm das Geld in die Hand und beschloß, meinen Plan zu verschieben. Es war merkwürdig: an diesem Abend war ich felsenfest entschlossen gewesen, zu fliehen; aber ich kann doch nicht sagen, daßes mir sehr unangenehm war, als mir das Schicksal eine Handhabe bot, die Sache noch etwas hinauszuzögern. Es war schon verteufelt riskant, was ich vorhatte, und ich empfand mehr Erleichterung als Ärger. Auch war ich gespannt, wie die Sache mit Menckhoff auslaufen würde. Auf alle Fälle gab es eine Sensation und eine Unterbrechung des trostlosen Lagereinerleis.

Ich hatte alle Hände voll zu tun, alles, was ich zu meiner Flucht vorbereitet hatte, in den bewährten Verstecken unterzubringen. Mit großer Spannung sah ich dem Abend entgegen, und richtig, um 7 Uhr kam ein Freund von Menckhoff zu mir mit der Mitteilung, daßdieser aus dem Unterbringungsraum der Ordonnanzen über die Mauer geklettert und von dort scheinbar weitergekommen war.

Das Bewachungspersonal tobte. Die ganze Nacht hindurch waren große Streifkommandos unterwegs. Von Menckhoff wurde keine Spur gefunden. Zwei Tage später löste man den Kommandanten ab und mit dem neuen kam eine gewaltige Wachverschärfung. Die Posten außerhalb und innerhalb des Lagers wurden vermehrt und paßten auf wie die Schießhunde. Wenn jetzt des Nachts irgendwo in einem Batiment ein Geräusch ertönte, legten sie einfach an und schossen durch die Tür in den Raum, in dem die Offiziere schliefen. Dreimal passierte dies in den letzten vierzehn Tagen.

Da saßich nun herrlich in der Patsche. Die Geschichte mit der Puppe konnte jetzt kaum noch klappen. Die Franzosen waren fürchterlich aufmerksam geworden, und es erschien fast ausgeschlossen, beim Abendappell meinen mit so viel Liebe zurechtgemachten Stellvertreter zu verwenden. Menckhoff war die Flucht geglückt. Nach 10 Tagen erhielten wir eine Karte, der wir entnehmen konnten, daßer tatsächlich nach Deutschland entkommen war.

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