IM GEFANGENENLAGER

 

Der Zug rollte in einen kleinen Bahnhof. Dort stand auf den weißen Schildern mit großer Schrift „Montoire". Als ich merkte, daßes jetzt ins eigentliche Lager ging, sah ich mir den Weg ganz genau an. Ich konnte ja nicht wissen, ob ich diese Kenntnisse nicht schon sehr bald gebrauchen könnte. Auch als ich durch die Ortschaft geführt wurde, prägte ich mir jede Einzelheit ein. Und dann stand ich plötzlich vor einem Tor, im Winde wehte die Trikolore, und ein Posten lief mit aufgepflanztem Bajonett auf und ab.

Schon von weitem sah ich, daßdies der Eingang des Lagers sein mußte. Es lag inmitten eines ganz niedlichen französischen Städtchens und war früher ein kleines Remontendepot gewesen. Man hatte die Ställe geräumt,

sie durch Verschläge unterteilt und in diesen Abteilen die Gefangenen untergebracht.

Zunächst kam ich in den Untersuchungsraum, in dem sich alltäglich die Kranken bei dem diensttuenden Arzt einfanden. Der Offizier vom Dienst erschien mit zwei wachthabenden Unteroffizieren, ich mußte mich völlig entkleiden, und meine Sachen wurden nach Geld, nach Karten und Messern durchsucht —Dinge, die man nicht ins Lager hineinbringen durfte. Nach dieser hochnotpeinlichen Untersuchung durfte ich mich wieder ankleiden. Meine schöne Kombination war längst völlig zum Teufel gegangen; das Geld das ich noch bei mir hatte, nahm man mir gegen eine Quittung ab und eröffnete mir, daßich es in Lagerbons umtauschen dürfte. Nun erst wurde ich ins eigentliche Lager geführt und dort dem Lagerältesten übergeben. So zog ich endlich nach einer langen und peinvollen Reise ins Kriegsgefangenenlager Montoire ein.

Seit meinem Abschußbis zum Eintreffen im Kriegsgefangenenlager waren fast zwei Monate verstrichen, und ich hatte in dieser ganzen Zeit nichts davon erfahren, was sich inzwischen an der Front ereignet hatte. Die unsäglichen Strapazen und die mannigfachen Erlebnisse seit meiner Gefangennahme, der Kampf um das tägliche Leben, hatten die Geschehnisse da draußen in der Welt mir etwas ferner gerückt. Aber jetzt im Lager da war doch meine erste Frage: „Wie steht es um uns ?" Und die Gesichter meiner Kameraden waren Antwort genug. Die beabsichtigten Offensiven waren fehlgeschlagen; sie hatten nicht den erhofften Umschwung der Lage herbeigeführt. Wir ahnten dumpf, daßnun das schicksalschwere Ende dieses furchtbaren Krieges nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. In uns brannte die Sorge um unser Land, und was noch schlimmer war: wir saßen hier gefangen und mußten es tatenlos zulassen, daßunsere Brüder in den Gräben in dem nun aussichtslos scheinenden Völkerringen verbluteten, wo wir ihnen doch so brennend gern geholfen hätten.

Mein Sergeant hatte recht gehabt. Es gab wirklich sehr viel Flieger hier in Montoire, und auch die Bewachung war so sorgfältig, wie mir mein Begleiter erzählt hatte. Die Posten waren samt und sonders wie auf Draht gezogen. Ich habe nirgendwo zuvor so ausgezeichnetes Wachtpersonal zu sehen bekommen. Im Innern des Lagers stand alle 20 Meter ein Posten, und auch hinter den Mauern, hinter denen die Freiheit winkte, waren Wachen stationiert, die ganz besonders gefährlich waren, weil sie für uns unsichtbar blieben. Erst wenn ein Flüchtling oben auf der Mauer war, konnte er mit ihnen Bekanntschaft machen.

Vom Augenblick meines Eintritts in das Gefangenenlager waren die Gedanken an meine Flucht das einzige, was mich beherrschte. In den ersten 14 Tagen berichtete ich den Kameraden und ließmir von ihnen erzählen. Es war Juli geworden, die Sonne brannte glühend vom tiefblauen Himmel herab. Ich hatte mir einen Liegestuhl gekauft. Den nahm ich nun allmorgendlich, setzte ihn zwischen die kleinen, zwei Quadratmeter großen Gemüse- und Blumenbeete, saßdort stundenlang, ließmich von der Sonne verbrennen und ruhte mich aus von den Anstrengungen der vergangenen Wochen.

Ich hatte diese Ausspannung bitter nötig. Eigentlich war der Krieg für mich entschieden; ich konnte zurückdenken an die langen Jahre des Kampfes, und sie erschienen mir wie ein wüster Traum, der weit hinter mir lag. Wenn ich aber den Blick wandte und die Stacheldrähte sah, die französischen Posten, die, den Stahlhelm auf dem Kopf, das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett in der Hand auf und ab patrouillierten, dann rißes mich zurück in die Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit war trostlos für uns. Die französischen Zeitungen berichteten viel von den Angriffen der Deutschen. Sie schrieben von den Gefangenen, die sie gemacht hatten, und von der Ankunft immer neuer Massen amerikanischer Truppen. Die Amerikaner gaben den schon fast völlig zermürbten Engländern und Franzosen viel Rückhalt. Wären sie nicht gekommen, der Krieg hätte sicherlich einen anderen Ausgang genommen.

Ich hatte jetzt hinter der Front Gelegenheit gehabt, die amerikanischen Soldaten kennenzulernen. Auf den Bahnhöfen sah ich die langen Truppentransporte passieren ... Herrgott, was waren das für mächtig große Burschen gewesen, die aus Konservenbüchsen ihr Cornedbeef schnitten, Weißbrot aßen und viel Wein dazu tranken. Wir waren anderes zu sehen gewohnt. Bei uns drüben aßman Rüben und schlechtes Brot, das aus Kartoffeln gemacht wurde. Schon in der Art der Verpflegung dokumentierte sich die Überlegenheit dieser Yankees.

Gaben uns die Zeitungsberichte mit den vielen Erfolgen des Feindes auch viel zu denken, wir ließen die Hoffnung trotzdem nicht sinken, denn bisweilen bekamen wir auch Zeitungen, denen wir entnehmen konnten, daßunsere Truppen siegreich gewesen waren. Wenn nämlich die Blätter, die man uns gab —sie wurden selbstverständlich zensiert —recht viele Ausschnitte hatten, dann wußten wir, daßes auf unserer Seite gut stand. Aber es blieb ein ewiges Hin und Her von freudigen und schlimmen Nachrichten, und wenn sie gar zu schlecht wurden, dann beschleunigten wir unsere Fluchtpläne, setzten die gesteckten Termine näher und wurden bei unseren Vorbereitungen noch vorsichtiger.

Es war nicht einfach, aus diesem Lager herauszukommen. Viele hatten es versucht, aber keinem war es bisher gelungen. Tagtäglich ließich mir von den Beteiligten davon erzählen. Meistens waren die Ausbrecher schon bei den Vorbereitungen erwischt worden. Einigen, denen es gelungen war, über die große Mauer hinwegzukommen, waren auf der anderen Seite in die Hände der Posten gefallen, und alle diese Versuche hatten mit mehr oder minder langen Gefängnisstrafen geendet. Für Vorbereitungen zur Flucht gab es nicht unter 30 Tagen Einzelhaft. Für Fluchtversuche selbst nicht unter zwei Monaten.

Ein großer Teil der Lagerinsassen war ständig damit beschäftigt, Fluchtpläne auszuarbeiten. Es wurden auch viele Versuche unternommen, aber alle scheiterten an der Aufmerksamkeit und der Pflichttreue des französischen Bewachungspersonals. Leider wurden auch sehr oft unverständliche Leichtfertigkeit und mangelnde Vorsicht den Kameraden zum Verhängnis. Eigenartigerweise ist es nur zweien geglückt, aus Montoire zu entfliehen. Beide Flieger, beide Ritter des Ordens Pour le merite, und es war für die Franzosen ein großer Jammer, daßgerade diese beiden, die ganz besonders scharf bewacht wurden, ihnen entkommen konnten.

Im Grunde war das Lagerleben gar nicht so uninteressant. Wir waren rund 250 deutsche Offiziere, von denen fast jeder viel Interessantes erlebt hatte. Bei vielen war die Gefangennahme mit spannenden Begleitumständen verbunden gewesen. Da gab es einen netten jungen Piloten, der mit seiner Maschine bei der Fernaufklärung angegriffen wurde. Die Kiste kam ins Trudeln, und plötzlich flog er in hohem Bogen aus der Maschine raus, wurde besinnungslos und kam heil und unbeschädigt aus 5000 Meter mit seinem Fallschirm glücklich unten an.

Ein anderer wieder, ein Infanterist, hatte mit seinem Bataillon den Abschnitt gehalten, während rechts und links der Feind durchgebrochen war und die Verbindung nach hinten abgeschnitten hatte. Erst nach heldenmütigem Kampfe war diese kleine Handvoll tapferer Soldaten dem Hunger und der Übermacht erlegen. Auch Marineleute gab es, U-Boots-Besatzungen, deren Boote vernichtet worden waren, und alle diese Schicksale waren ebenso interessant wie lehrreich.

Jene, deren Nerven schon etwas angegriffen waren, fanden das Lagerleben eintönig, stumpfsinnig und aufreibend. Vielleicht hatten sie recht, es war schon nicht leicht, auf engem Raum Tag für Tag denselben Menschen und den gleichen Gesichtern zu begegnen. Das war eben die bekannte Gefangenenpsychose, deren wahrer Grund aber darin bestand, daßman sich das Leben gegenseitig schwer machte. Man war ja nie allein; die Unterbringung der meisten von uns war sehr dürftig, denn man hatte sich wenig Arbeit gemacht, nur Betten aufgestellt und jedem eine winzig kleine Kommode gegeben. Sie mochten sich einander nicht mehr sehen und bauten sich aus Packpapier kleine Verschläge, um wenigstens für kurze Zeit ganz für sich sein zu können.

Das Essen war schlecht, es gab gerade so viel, daßman nicht verhungerte, auch fehlte die tägliche Bewegung. Wir hatten wohl einen Fußballplatz, aber der war so klein, daßnur eine sehr genaue Zeiteinteilung es ermöglichte, daßjede Gruppe täglich für kurze Zeit zum Spielen kam.

Vielseitig wie die Berufsarten waren auch die Beschäftigungen, mit denen wir uns die Zeit vertrieben. Der Arzt gab medizinische Vorlesungen, der Kaufmann sprach über Handel und Wirtschaft, der Buchhalter führte uns in die Geheimnisse der doppelten Buchführung ein, der Bergassessor vermittelte uns sein Wissen über Geologie, und die Juristen dozierten über Rechtswissenschaften. Ja, wir hatten auch eine ganze Reihe von Lehrern und Professoren unter uns, die Sprachunterricht erteilten . . . wenn man wollte, konnte man sehr viel lernen. Einzelne bereiteten sich sogar auf ein Notabitur vor, das im Lager selbst abgehalten wurde und später nach der Rückkehr in die Heimat auch von den deutschen Behörden anerkannt worden ist.

Daneben wurde eine Lagerzeitung redigiert, in der alle Nachrichten, die aus der Heimat kamen, der Allgemeinheit zur Kenntnis gebracht wurden. Das Ganze war eben eine richtige kleine Welt. Viele gingen in ihr auf und vergaßen darüber ihr trauriges Schicksal, aber für mich gab es immer und immer wieder nur das eine: die Sehnsucht nach der Heimat, die Sehnsucht, wieder kämpfen zu dürfen. Hier konnte nur eines helfen, und das war die Flucht.

Share