DER TRUNKENBOLD

 

Vor der Brasserie, die sich am Rande dieses Platzes befand, standen Tische auf dem Trottoir, an denen Menschen saßen, tranken, rauchten und sich unterhielten. Ganz in der Nähe stand auch eine Erfrischungshalle, an der scheinbar noch gebaut wurde.

Ich setzte mich an einen leeren Tisch und bestellte bei dem kleinen Kellner, der mich nach meinem Begehr fragte, in dem mir nun schon geläufigen Tonfall die bewußte Flasche Bier. Er brachte sie und bekam seinen Franc, den er grinsend einstrich. Nun hatte ich Zeit, über den bisherigen Verlauf meiner Reise nachzudenken. Bei meiner Wanderung durch Frankreich hatte ich alle Hemmungen verloren. Jetzt fühlte ich mich vollkommen sicher.

Und dann ... wenn ich morgen mit dem Zug nach Lyon fuhr, hatte ich es nicht mehr weit nach der Schweizer Grenze. Noch zwei Tage ——wenn es gut ging. Aber nun wollte ich nicht mehr daran denken, was mir noch bevorstand. Das Bier tat seine Wirkung. Es machte mich froh und auch ein wenig leichtsinnig. Als der Kellner

wieder an mir vorbeistrich und fragend auf die geleerte Flasche sah, bestellte ich eine zweite.

Jetzt wurde ich aber verteufelt müde. Die anderen Gäste brachen auf, und über den Bahnhofsplatz marschierten bereits die Bahnhofspatrouillen. Offenbar wurde um diese Zeit Polizeistunde geboten.

Wohin jetzt? Da ich nicht riskieren wollte, den Bahnhof aus den Augen zu verlieren, schien es mir wenig ratsam, mich weit von ihm zu entfernen.

Da fiel mir die Erfrischungshalle ein, die leer und verlassen auf die Maurer wartete, die am nächsten Morgen kommen sollten, um an ihr weiterzuschaffen. Sie war ja so nah, und sicher konnte ich in ihr die Nacht ungestört verbringen. Ich ging hin, verschwand im Schatten ihrer Wände und legte mich auf dem Mörtel, der am Boden lag, zur Ruhe nieder. Müde war ich zwar, aber der Schlaf wollte doch nicht kommen, denn von draußen herein schollen die gleichmäßigen Schritte einer Wache. Sie kamen näher und entfernten sich wieder —immer in ganz regelmäßigen Abständen.

Vorsichtig erhob ich mich und lugte über die Brüstung hinweg. Ein Posten patrouillierte auf dem Bahnhofsplatz und näherte sich dabei stets meinem Unterschlupf. Da war ich also in eine schöne Falle geraten! Beim vierten Male entfernten sich die Schritte nämlich nicht wieder, sondern ich hörte ein Poltern am Holz der Halle und über mir erschien die Silhouette eines französischen Stahlhelms. Der Posten mußte mein Einsteigen bemerkt haben; nun blickte er herein und sah mich natürlich.

Jetzt ist es aus ! —fuhr es mir siedend heißins Herz. Sollte ich aufstehen und weggehen ? Sollte ich versuchen, still und heimlich fortzuschleichen ? Tausend Pläne kamen und wurden verworfen. Der Posten hatte sich wieder zurückgezogen und seinen Marsch fortgesetzt; aber jedesmal, wenn er wieder an die Halle herankam, trat er näher und blickte zu mir herein. Ein heimliches Entwischen schien unmöglich. Die Erfrischungshalle stand vollkommen isoliert, und wenn der Franzose auch nur ein wenig achtgab, mußte er mich bemerken.

Dann kam die Ablösung. Die Posten sprachen miteinander, und der Abgelöste machte seinen Kameraden auf mich aufmerksam. Was sollte ich tun ? Zunächst drehte ich mich in dem kalkigen Mörtel ein paarmal um mich selbst, bis mein Anzug völlig mit Dreck überzogen war und ich für einen Maurer gelten konnte. Auch mein Gesicht hatte ich mit Kalk beschmiert.

Es war mir nämlich eingefallen, daßman sich in Frankreich um Betrunkene kaum kümmert. Auf unseren Spaziergängen in der Nähe von Montoire waren wir oft an solchen vorbeigekommen, die schnarchend am Grabenrand gelegen hatten. Die Leute machten zwar boshafte Bemerkungen, ließen die Berauschten aber ruhig liegen und weiterschlafen.

Ich wollte also tun, als sei ich ein Maurer, der hier seinen Rausch ausschlief. Wenn der Posten wieder einmal zu mir hereinblickte, dann spie und stöhnte ich entsetzlich. Als es mir dann an der Zeit schien, ernst zu machen, tat ich so, als erwachte ich. Mich auf die Theke stützend spuckte ich fürchterlich.

Der Posten stand ganz nahe bei mir, als ich wie ein Betrunkener aus meinem Versteck heraustorkelte, mich schwankend zu einer hell leuchtenden Laterne rettete, an der ich mich scheinbar festklammern mußte, um nicht hinzuschlagen. Er blieb interessiert stehen und beobachtete den Saufsack, der den Kanal gründlich voll zu haben schien. Mit unsicheren Schritten torkelte ich zur Brasserie hinüber, fand die Straße, die in die Stadt hinein führte, und schwankte weiter.

Der Posten kam mißtrauisch hinter mir her und paßte auf, ob ich in meinem Suff keinen Unfug anstellte, aber er war sicherlich auch froh, daßich ihm keinen Ärger bereitete.

Solange er mich sehen konnte, wankte ich; erst als ich um eine Ecke herum war, richtete ich mich auf. Niemand war auf den leeren, schlecht beleuchteten Straßen. Mein Herz klopfte wild, und ich schwor jetzt einen heiligen Eid, keinen Tropfen Bier mehr zu trinken, solange ich mich noch auf französischem Boden befand. Denn nur das Bier war es gewesen, was mich so schlapp gemacht und zum Schlafen in der Erfrischungshalle verführt hatte.

Ich marschierte nun aufrecht weiter und sah mich nach einem Plätzchen um, wo ich die Nacht verbringen konnte. Es war bereits nach zwei Uhr. Viel Zeit hatte ich also nicht mehr, denn in vier Stunden ging mein Zug nach Lyon. Als ich einen schönen Park fand, in dem es dichte Büsche und einen kleinen See gab, lieB ich mich auf einer Bank nieder und wartete geduldig. Der Schlaf war mir gründlich vergangen. Ich fürchtete auch, vielleicht meinen Zug zu versäumen. Schließlich hatte ich nachher auf der Fahrt genug Zeit, das Versäumte nachzuholen.

So sicherte ich wie ein Reh und horchte mit allen Sinnen in die Nacht. Gegen vier Uhr begann ich mich für die Reise fertigzumachen. Schnell war ich frisch rasiert und konnte beginnen, meinen Anzug abzubürsten. Das war eine Hundearbeit, denn der Kalk saßfest an dem Gewebe. Als ich dann aber noch meine Stiefel unter Zuhilfenahme von Wasser poliert hatte, sah ich fast sonntäglich elegant aus. Die dunkle Hose, der schwarze Lüsterrock —ich schien ein Arbeiter zu sein, dem es verhältnismäßig gut ging.

Den Bahnhof fand ich bald wieder und mischte mich in den Strom der Frühaufsteher, die gleich mir den Zug erreichen wollten. Zwei Fahrkartenschalter waren schon geöffnet. An dem einen saßein griesgrämiger, alter Bursche, an dem anderen aber ein nettes Mädel, das mit einem französischen Offizier kokettierte. An sie wandte ich mich, betete mein eingelerntes Sprüchlein —„une troisi6me Lyon aller" —reichte ihr zwanzig Francs, bekam eine Fahrkarte und noch etwas Geld zurück.

Leider stand unmittelbar vor dem Zugang zum Perron ein Gendarm und neben ihm ein Mann in Zivil. Kriminalpolizei. Ich betete ein kleines Vaterunser, machte mein harmlosestes Gesicht und kam auch glücklich an den mißtrauisch blickenden Burschen vorbei. Der Zug hatte beträchtliche Verspätung, so daßich lange auf dem Bahnsteig hin und her laufen mußte. Dabei entdeckte ich ein Büfett, an dem es alles Mögliche zu kaufen gab. Überall stand der Preis dran, so daßich gar nicht zu sprechen brauchte, sondern schnurstracks ein Schinkenbrot ergriff, die 50 Centimes auf das Zahlbrett legte und nun ein glänzendes Frühstück hatte. Die Reste meiner Vorräte waren doch bereits am Tage vorher zu Ende gegangen.

Auch eine Zeitung erstand ich. Nicht zum Lesen, aber vielleicht war es gut, so ein Blatt zu besitzen. Als der Zug endlich einlief, war er vollkommen überfüllt. Ich drängte mich in das erste beste Abteil hinein, das so voll war, daßich keinen Sitzplatz mehr fand. Mich scheinbar in meine Zeitung vertiefend, lehnte ich an der Wand zwischen zwei Coules, um, falls es notwendig werden sollte, gegebenenfalls in das eine oder das andere hinüberwechseln zu können.

Wie gut diese kleine Vorsichtsmaßregel war, merkte ich schon eine halbe Stunde später. Ein Pastor hielt sich für verpflichtet, den Versuch zu machen, mich in eine Unterhaltung zu ziehen. Zum Glück sauste der Zug gerade durch eine Kurve, und es sah aus, als drückte mich die Zentrifugalkraft in das andere Abteil hinüber. Der Abbe gab sich zufrieden, und ich war froh, der Gefahr einer Entdeckung wieder einmal entgangen zu sein.

Der Zug war wirklich ein „Train rapide", der rasend durch die Landschaft sauste. Bäume, Häuser und Straßen sausten in wechselnder Folge draußen vorbei. Oft sah ich auf der Landstraße, die dem Schienenweg folgte, Radfahrerpatrouillen und war selig, mit dem Zug an ihnen vorbeizukommen. Wäre ich zu Fußgewandert, hätte ich ihnen schließlich doch einmal in die Hände laufen müssen.

Der Zug wurde immer leerer. Da es nun genügend Platz gab, mußte ich mich auch setzen. Mir gegenüber saßein Soldat, und um seiner Anrede zu entgehen, las ich ostentativ in meiner Zeitung. Nach einer Weile tat ich so, als schliefe ich ein. In Wirklichkeit beobachtete ich jedoch den Soldaten, der sich sehr langweilte, und nicht übel Lust zu haben schien, sich durch eine Unterhaltung mit seinem Gegenüber über die Öde der langen Bahnfahrt hinwegzubringen.

Was war da zu tun ? Lange grübelte ich nach, ehe ich das Gegengift fand. Ich wollte den Idioten spielen. Auch diese Pose hatte ich mir vor Antritt meiner Flucht in Montoire zurechtgelgt und eine fürchterliche Grimasse vor dem Spiegel einstudiert. Wenn ich die zog, sah ich so herrlich idiotisch aus, daßjedem die Lust zu einem Gespräch mit einem solchen Trottel vergehen mußte.

Die Brauen hochgezogen, den Mund halb geöffnet, murmelte ich unverständliches Zeug vor mich hin, während ich blöd durch das Fenster hinausstierte. Der Soldat sah ein, daßes wirklich keinen Sinn hatte, sich mit mir abzugeben. So verrannen die Stunden, während der Zug durchs Land jagte. In Roanne stieg mein Soldat aus.

Aber schon trat eine neue Gefahr an mich heran. Hier fand eine Zugkontrolle statt, die von Soldaten und Gendarmen gemeinsam durchgeführt wurde. Auch einen Polizeihund hatten sie mit und sahen in jedes Abteil. Ich tat, als hätte ich mich mit dem aussteigenden Soldaten gut unterhalten und winkte noch hinter ihm her. Das Kontrollpersonal behelligte mich nicht.

Doch   verdammt, jetzt erkannte ich in einem der revidierenden Gendarmen einen meiner Gefangenenbegleiter, mit dem ich vor anderthalb Jahren auf meiner Reise nach Montoire einen ganzen Tag lang in einem Abteil gesessen hatte. Ich war froh, daßdieser Mann kein so gutes Personengedächtnis besaßwie ich, denn sonst wäre es mir wohl übel ergangen.

Dann aber ruckte der Zug wieder an. Noch fast zwei Stunden mußte ich fahren, ehe Lyon erreicht war. Dort kam ich gut durch die Sperre und sah mich nach einem Zug um, mit dem ich weiterreisen konnte. Von Lyon führte eine Bahnlinie nach Bellegarde. Das liegt in der Gegend von Genf, ganz nahe der Schweizer Grenze.

Ich hatte mir einen Fahrplan gekauft. Auch dort war diese Strecke verzeichnet. Als ich mich aber anschickte, festzustellen, wann mein Zug weiterging, trat ein Neger in Uniform auf mich zu und fragte mich etwas. Ich verstand ihn nicht, zuckte die Achseln und ging weiter. Auch hier gab es viele Kriminalbeamte in Zivil —Gott sei Dank durch ihren typischen Aufzug auf zehn Schritt Entfernung als solche zu erkennen. Ich schlug einen Bogen um sie und fand vor dem Bahnhof einen Eisstand.

Trotz des Spätnachmittags war es glühend heiß. Ich erfrischte mich und kaufte bei einem Obsthändler zwei Pfund herrlicher Trauben, die ich in einer nahen Anlage verzehrte. Dann trottete ich wieder zum Bahnhof, denn in der Auslage der Bahnhofsbuchhandlung hatte ich Karten des Alpengebiets entdeckt, die ich gern erstanden hätte. Ich selbst besaßja nur ein dreifingerbreites Stück einer Karte sehr großen Maßstabes, das mir leider wenig nützen konnte, wenn ich Genaueres wissen wollte.

Obwohl ich dem Verkäufer die in der Auslage hängende Karte zeigte, verstand er mich nicht, und so mußte ich davon ablassen, wenn ich mich nicht auffällig machen wollte. Als ich in meinem Fahrplan blätternd dahinschritt, hatte ich eine schlimme Nervenprobe zu bestehen. Ohne auf den Weg zu achten, war ich vor ein großes tristes Gebäude gekommen, dessen Tor aufsprang        und heraus trat ein langer Zug Gefangener, der von Polizisten eskortiert wurde. Fast hätten mich in diesem Augenblick die Nerven verlassen. Dort marschierte mein eigenes Schicksal greifbar an mir vorüber. Ich habe mich sehr zusammenreißen müssen, um die Blicke der Gefangenenbegleiter unbefangen auszuhalten.

Wie ich aus meinem Fahrplan ersah, mußte ich in Richtung Amb6rieu fahren. Um alle Ausspracheschwierigkeiten zu vermeiden, wollte ich eine Fahrkarte nach dem Städtchen Annemasse verlangen, aber vorher im Rhöne-Tal aussteigen. Da ich bis zum Abgang des Zuges nicht mehr viel Zeit hatte, kaufte ich ein Billett, nachdem ich vorher den Preis auf einem Fahrpreisanzeiger festgestellt hatte.

Mehr Mühe machte aber das Auffinden des richtigen Zuges, und es war ein großes Glück für mich, daßmein Zügle Verspätung hatte. So lange irrte ich nämlich auf den verschiedenen Bahnsteigen herum, daßdie vorgeschriebene Abfahrtszeit längst vorüber war.

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