DIE TRAGIKOMÖDIE DES LEUTNANTS v. BULOW

 

Der nächste Morgen brachte ein großes Ereignis für uns Gefangene. Leutnant Sand war nicht gefaßt worden. Er befand sich auf dem Wege zur Heimat und hatte nun, da er allein war, sicherlich große Aussicht, durchzukommen. Wir hätten uns, wenn unser Ausbruch geglückt wäre, sowieso getrennt, denn das Zusammenlaufen von drei Verdächtigen mußte ja auffallen und zum Scheitern unserer Flucht führen.

 Nun begann der große Appell. Der Gefreite, der mich fast mit dem Bajonett abgestochen hätte, kam mit den beiden Posten, dem Lagerkommandanten und dem Offizier vom Dienst, und nachdem der Lagerälteste Meldung erstattet hatte, wurden wir der Reihe nach verlesen. Jeder mußte vortreten. Jeden besahen sich die drei Franzosen ganz genau, denn sie hatten es sich in den Kopf gesetzt, den dritten Ausreißer festzustellen.

Auch ich trat vor, tat genau so harmlos wie die anderen, die nichts auf dem Kerbholz hatten, und wurde von vorn

und von hinten genau angesehen. Wie bei den anderen wurde auch mein Waffenrock gründlich kontrolliert, aber er war so gut kunstgestopft, daßnichts mehr zu erkennen war. Man schöpfte auch keinen Verdacht, und ließmich wieder eintreten.

Nun harrten wir der kommenden Dinge. Dort erschien einer verdächtig, da prüfte man einen anderen ganz besonders scharf, aber immer wieder schien man sich davon zu überzeugen, daßes sich doch nicht um den wahren Täter handeln konnte. Und dann, sie waren schon bei der vorletzten Gruppe angekommen, schien es dem Gefreiten langsam zu dumm zu werden. Einer mußte doch schließlich der dritte Verbrecher sein. Gerade trat ein Leutnant v. Bülow vor, ein schneidiger Kerl, der stets verdächtig war, sich mit Fluchtvorbereitungen zu beschäftigen, und seinen Freiheitstrieb bereits ein paarmal im Prison büßen mußte. Auch jetzt nahm man ihn wieder gründlich vor, er mußte vor der Front stehen bleiben, bis der Rest durchgesehen worden war. Dann aber erklärte der Wachthabende mit Bestimmtheit, in Bülow den dritten Ausreißer zu erkennen, und der arme Kerl mußte wieder einmal ins Loch spazieren.

Wir taten alles, um ihm, der doch wirklich unschuldig im Gefängnis saß, wieder herauszuhelfen. Verschiedene Kameraden, mit denen er am Abend vorher zusammen Karten gespielt hatte, gingen zum Kommandanten und verpfändeten ihr Ehrenwort. Nichts half. Der Gefreite blieb bei seinen Angaben, und der Kommandant erklärte, nur dann an die Schuldlosigkeit Bülows glauben zu können, wenn sich der wahre Dritte melden würde.

So mußte der Arme brummen, während ich in Freiheit blieb. Wie gern wäre ich zum Kommandanten gegangen und hätte mich gemeldet, um ihn freizubekommen, aber ich hatte ja noch einen anderen Fluchtplan in Vorbereitung, und bevor der auch mißglückt war, wollte ich nicht resignieren und damit alle Hoffnungen, doch herauszukommen, aufgeben. Diesmal wollten wir über eine Mauer auf der anderen Seite des Lagers. Wir hofften, daßhinter ihr kein Posten stand. Mit den weiter hinten liegenden Gartenzäunen würden wir schon fertig werden. Da die Mauer recht hoch war, mußten wir zu zweit sein, um einander hinaufhelfen zu können.

Alles war bereit. Als es dunkel wurde, begann es zu regnen, und die Posten stellten sich unter. Unsere Mauer wurde von zwei Lampen beleuchtet, aber zwischen den beiden Laternen befand sich eine Stelle, die nicht sehr hell und darum auch nicht so leicht zu beobachten war. Hier wollten wir entschlüpfen. Um hinauszukommen, mußten wir die Leiter benutzen, die beim Anzünden der Lampen verwendet wurde.

Unsere gesamte Ausrüstung hatten wir am Körper untergebracht und standen nun im Schatten des Tores der einen Wohnbaracke. Die Luft schien rein. Da schlüpfte Leutnant Rademacher als erster unter dem einfachen Drahthindernis durch, holte die Leiter, stellte sie an und stieg auf ihr empor. Im nächsten Augenblick war er auf der anderen Seite der Mauer verschwunden.

Jetzt war ich an der Reihe. Ich sprang aus meinem Versteck, kletterte unter dem Drahtzaun durch und hatte gerade die zweite Sprosse der Leiter erklommen, als draußen —außerhalb des Lagers ein Schußfiel.

Rademacher war entdeckt worden. Jetzt wäre es sinnlos gewesen, ebenfalls ins Verderben zu rennen. Ich sprang wieder hinunter, stellte die Leiter zurück an ihren Platz und lief ins Lager. Um nicht aufzufallen, ging ich langsam und gelassen über den Hof zu meinem Zimmer. Aber ich hatte den Eingang noch nicht erreicht, als ein toller Tanz begann. Die Posten rannten wie wild herum, und der Kommandant kam aus seiner Wohnung heruntergestürzt. Es war ein höllisches Durcheinander. Auch die Gefangenen waren durch den Alarmschußaufgeschreckt worden.

Wieder war ich mit einem blauen Auge davongekommen. Schnell versteckte ich das, was ich an meinem Körper verstaut hatte. Gott sei Dank, diesmal gab es nichts zu flicken ; auch hatten die Franzosen ja nicht bemerkt, daßbei diesem Ausbruchsversuch auch noch ein zweiter im Spiele war.

Der übliche Appell fand statt, während von draußen fürchterliches Geschrei und das Durcheinander vieler erregter Stimmen zu uns ins Lager drangen. Offenbar war Rademacher bereits erwischt worden, und richtig, nach kaum einer Viertelstunde brachten sie ihn gebunden und gefesselt zum Lagereingang herein. Er war übel zugerichtet worden und wurde gleich ins Arresthaus geführt, wo er dreißig Tage lang für die kurzen Sekunden der Freiheit büßen mußte.

Später erfuhren wir, was sich eigentlich ereignet hatte. Rademacher war auf der anderen Seite der Mauer hinuntergeklettert und ein paar Schritte gegangen, um sich zu informieren, denn wir wußten ja nicht, was hinter der Mauer lag. In diesem Gang hatte er eine an einer zweiten Mauer angelehnte Leiter gefunden, auf der er emporkletterte. Aber jenseits dieses Hindernisses stand ein Posten, der sofort nach ihm schoß. Rademacher versuchte noch zu flüchten, aber er war in einem nahen Garten rasch entdeckt worden.

Das Schießen des Postens hatte nämlich nicht nur die Lagerwache, sondern auch die Bevölkerung alarmiert. Den Polizeihunden vermochte Rademacher zwar noch zu entgehen. Die Tiere schnüffelten nur an ihm herum, aber sie taten ihm nichts. Die Bewohner dagegen hatten ihn gefunden, aus seinem Versteck gezerrt und ganz schrecklich zugerichtet, indem sie mit schweren eisernen Ketten auf ihn einschlugen. Wäre nicht ein anständiger Feldwebelleutnant unserer Lagerwache dazugekommen, hätte man ihn erschlagen.

Das war in der Zeit kurz vor dem Ende des Krieges. Kein Franzose glaubte damals, daßdie Entente doch schließlich Sieger bleiben würde, und ließen nun ihre Wut an uns Kriegsgefangenen aus. Wer von uns der Zivilbevölkerung in die Hände fiel, dessen letztes Stündlein hatte geschlagen.

So ist es auch dem armen Leutnant Sand ergangen, der aus dem Lager entkommen war und sich bis in die Gegend von Paris durch geschlagen hatte. Unter einem Güterzug wurde er aber doch entdeckt. Was weiter mit ihm geschah, haben wir erst später aus französischen Zeitungsnotizen erfahren. Angeblich soll er vor seinen Verfolgern geflüchtet sein und beim Sprung über eine Brückenbrüstung den Tod gefunden haben.

über meinen dritten mißlungenen Ausbruchsversuch war ich außerordentlich deprimiert, obwohl ich auch diesmal wieder mit heiler Haut davongekommen war. Schon witzelten die Kameraden, die davon wußten. „Der eine bekommt die Schokolade, der andere die Prügel", so sagten sie, denn Schokolade nahmen wir immer für die Flucht mit, und dieser Notproviant mußte, war das Unternehmen mißglückt, natürlich schleunigst verschwinden, am besten aufgegessen werden.

Jetzt mußte ich es endgültig aufgeben, vor Einbruch des Winters noch zu entkommen. Denn selbst wenn es mir gelang, das Lager zu verlassen, würde man mich doch schnappen. In dieser Jahreszeit war es ausgeschlossen, unerkannt einen so langen Weg durch Frankreich zurückzulegen. So beschloßich, meine Fluchtpläne den Winter über zu begraben und statt dessen lieber den Versuch zu machen, Bülow, der immer noch im Prison saß, dadurch zu befreien, daßich zum Kommandanten ging und mich als den dritten Ausreißer bezeichnete.

Schon am nächsten Morgen ließich mich durch den Dolmetscher melden und erklärte dem Lagerkommandanten unumwunden, daßLeutnant v. Bülow unschuldig, ich dagegen der wahre Attentäter sei. Der Kommandant hatte keine Veranlassung, meinen Worten zu mißtrauen. Ich mußte meine Sachen packen und ins Gefängnis umziehen, während sich für Bülow die eisernen Tore des Kerkers öffneten.

Es war ekelhaft kalt in diesen Oktobertagen. In der Zelle konnte ich mir keine Bewegung machen. Schlimmer aber quälte noch die Ungewißheit darüber, was nun mit mir geschehen würde. Damit mir die Zeit nicht zu lang wurde, hatte ich mir Zeichenmaterial mit ins Gefängnis genommen und strichelte nun den ganzen lieben Tag. Am zwölften Tage meiner Haft ereignete sich etwas, das uns allen unverständlich war. Der Kapitän vom Dienst erschien plötzlich bei mir im Gefängnis.

„Kapitän Köhl, Sie sind frei!" Er deutete auf die geöffnete Zellentür. Ich sah ihn vollkommen verständnislos an. „Sie können gehen !" herrschte er mich an, als ich keine Anstalten machte, seiner liebenswürdigen Aufforderung nachzukommen.

„Sie können gehen", wiederholte er noch einmal und fügte hinzu: „Der Kommandant der Region hat Ihre Meldung nicht anerkannt."

Noch immer verstand ich nicht, führte aber den Befehl aus, kramte meine Habseligkeiten zusammen und zog wieder auf meine Bude. Auch meine Zimmergenossen waren höchst erstaunt, als sie mich plötzlich froh und wohlgemut wieder auf der Bildfläche erscheinen sahen.

Erst etwas später ging uns ein Licht auf, denn Leutnant v. Bülow erhielt den Befehl, schleunigst sein Waschzeug zu nehmen und dem Posten zu folgen, der ihn ins Gefängnis brachte. Es half nichts, der arme Bülow mußte zum zweitenmal zum Prison wandern.

Jetzt kapierten auch wir, was sich ereignet hatte. Der Kommandant

der Region —also der Leiter jener Gefangeneninspektion, dem auch unser Lager unterstand —erklärte rundweg, daßmeine Meldung nicht berücksichtigt werden könnte. Wenn der Gefreite in Leutnant v. Bülow den Flüchtling erkannt habe, dann müsse ihm mehr geglaubt werden als mir. Punktum. —So hatte er einfach meine Entlassung verfügt, und der arme Bülow mußte nun den ganzen Rest der ihm willkürlich zudiktierten Strafe absitzen, ohne daßman ihm die von mir abgebrummten zwölf Tage anrechnete. Das war eben die militärische Rechtsprechung der Franzosen.

Für mich hießes jetzt, ganz still sein und die Klappe halten, denn ich mußte froh sein, wenn man mich nicht auch noch einlochte, weil ich —immer nach Ansicht dieses Herrn Regionskommandanten ! den Lagerkapitän angelogen hatte.

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