Stimmen aus der Vergangenheit

 

Über vergebliche Arbeit geht nichts! Meine Lebensgeschichte, die wie alle derartigen Dinge schwer zu schreiben war, lag fertig vor. Leicht und unbeschwert lebte ich in den Tag hinein, im Bewußtsein getaner Arbeit. Das ist indessen nur bildlich zu verstehen. In Wirklichkeit war ich mit meinen beiden Freunden und Kameraden auf der Fahrt durch die großen amerikanischen Städte, die uns ein­geladen hatten, sie nach unserem Fluge zu besuchen. In Detroit ereilte mich das Schicksal. Eigentlich sollte es an­ders sein, aber ich las den Brief selber. Man bat meinen Freund Schroeder vom Norddeutschen Lloyd in New York, mich schonend darauf vorzubereiten, daß der Artikel über mein Leben mehr einer Predigt als einem Buchanfang ent­spräche.

Verleger sind hinterhältig. So auch der meine. Ich las den Brief und bin nicht zusammengebrochen. Weder seelisch noch körperlich. Dieses Zeichen von Charakterstärke bitte ich zu beachten, zumal das Schreiben in meine Hände fiel, als ich bereits die sechste Rede in meinem berühmt schlechten Englisch an diesem Tage hinter mir hatte. Feh­ler und Schwächen können unter bestimmten Umständen zu Stärken werden. Also noch einmal, und wenn möglich einen pikanten Salat!

 Das Datum der Geburt bleibt unverändert. Es war und ist der 1. Mai 1892. Ein denkwürdiger Tag — für die Geschichte der Menschheit weniger als für mich selbst —. Man mag urteilen wie man will, aber der Tag der Geburt bleibt nun einmal das Entscheidende im Leben eines jeden Menschen. Das sieht wie Philosophie aus, ist aber nicht einmal eine Satire, sondern eine nüchterne Wahrheit. 36 Jahre liegen zwischen jenem 1. Mai und heute. Was soll ich herausgreifen, was soll ich verschweigen?

Jene verzehrenden zehn Jahre nach 1916 tauchen auf, irgendwo blitzen Moschee-Türme auf, Minaretts, blauendes Meer und malerische Treppenstufen. Genua? Konstanti­nopel? Ein Abschnitt in meinem Leben, diese Reise nach Konstantinopel im Auftrage des Auswärtigen Amtes. Ein Beginn, wofür! Für den Dienst in der Welt; herausgerissen zum ersten Mal aus inländischen Kreisen, im amtlichen Auftrag im Ausland tätig. Im Schatten des Krieges. Der Schwerinvalide Hünefeld kriegt die Anfrage, ob er diplo­matische Missionen erfüllen will. Bejahende Antwort eine Selbstverständlichkeit. Wenige Stunden zum Packen und zwei Tage später Audienzen bei König Ferdinand von Bulgarien, Audienzen beim Sultan. Über dem Schreib­tisch gebeugt das wundervoll schauende Auge des Grafen Metternich. Botschafter in London vor dem Kriege, vor­übergehend auch hier als Botschafter des Reiches tätig. Ein weiser aller Fürst. — Wo sah ich ihn wieder? Genau zehn Jahre seit jenem Tage. April, 1926, Frühling, Sommer von Locarno. Auf weiter Terrasse des Grand Hotel eine weiß gekleidete Gestalt im bequemen Korbstuhl. Das weiße Haar dieses wundervollen Künstlerkopfes paßt so gut in die flim­mernde Sonne. Der Botschafter a. D. — Vorüber die Kon­ferenzen, hier herrscht nunmehr die Ruhe nach dem Sturm. Wenige Meilen entfernt hat der deutsche Kronprinz eine kleine Villa gemietet. Mittags siedelte ich zu ihm über. Seltsame Wege des Schicksals. Acht Jahre zuvor? Wierin­gen — Kälte und Nebel — drei bis vier Leute im kleinen Pastorenhausl Der Kronprinz, Major Müldner von Mülnheim und ich. Sonne und Regen wechseln nach altem Brauch.

Propeller-Geräusch. Schon vor 15 Jahren? Immer das­selbe! Benzin und rotierende Motoren. Wer denkt an die alte Farman-Kiste? Wunderbarer Fortschritt! Nicht jede Landung enthält mehr die brennende Frage, ob dieses Mal Motor und Propeller einem ins Kreuz schlagen. So gehen wir weiter. Die Automobilunfälle mehren sich. Warum nicht fliegen? Bleriot flog auch. Über den Kanal! Es gibt viele Kanäle, aber nur den einen, den man d e n Kanal nennt. Die Zeiten ändern sich. Der Kanal dehnte sich aus, er ist nicht mehr derselbe. Er reicht von West nach Ost und von Ost nach West. Man nennt ihn heute „Atlantischen Ozean". Ist Bleriots Mut geringer, seine Tat tiefer einzu­schätzen als die Flüge unserer Zeit? Keineswegs! Ich kenne die Maschine, mit der er flog, habe im selben Typ geschult. Propeller und Motor haben mir nicht das Kreuz zerschlagen. Und dennoch ist es ein Wunder, daß nichts geschah. Und mit diesem Flugzeug von der britannischen Insel zum Kon­tinent. Was werden unsere Enkel sagen? Will das Pro­pellergeräusch nicht verstummen? In der Halle surrt der Staubsauger. Ein Irrtum? Nein, eine Anregung.

Wer zählte 1913 zur Fliegerei? Waren wir nicht Frei­maurer, die fest geschweißt zusammenhalten? Auch der Einäugige wurde für voll genommen, obwohl ihm das Pilotenpatent nie erteilt wurde, nie erteilt werden wird. Er hieß Hünefeld und sieht seit Geburt nur auf dem kurz­sichtigen rechten Auge. Daher die Ehe mit dem Monokel. Schwächen mögen zu Stärken werden! Hünefeld ohne Mo­nokel wirkt banal und alltäglich. Mehr zu sagen wäre un­bescheiden.

Man schreibt, man fliegt und wird geflogen. Boheme bleibt Boheme. Wer kennt noch in Berlin das Cafe „Größenwahn"? Prunkvoller Anstrich versucht seine Vergangen­heit zu verleugnen. Zweckloses Bemühen! Vergangenheit bleibt vergangen. Maximilian Bern, der Herausgeber der „Zehnten Muse"! Klein, zierlich, mit zurückgestrichenem Künstlerhaar, gepflegtem weißem Spitzbart. Mittelpunkt des Stammtisches, der durch mich neue Impulse erhält. War damals der Flug nichts Künstlerisches? Er war es und bleibt es. Man schrieb schlechte Gedichte, bessere Feuilletons, zu­viel sogar, ein wirklich gutes Poem. Die Schützengraben­ausgabe der „Zehnten Muse" enthält den ersten öffentlich anerkannten Beitrag aus meiner Feder. Frohe Nachrichten für den schwer Zusammengeschossenen.

Die Jahre gehen durcheinander, 1914, 1915? Nein, noch 1913, noch Frühling des Jahres 1914! Und der Sommer! Johannisthal! Die Geburtsstätte der deutschen Fliegerei. Rumpler-Taube, L. V. G., Melli Beese! Namen der Vergan­genheit. Erst der Zwang des Krieges drückte Professor Junkers den Stift zur Konstruktion derjenigen Flugzeuge in die Hand, die letzten Endes den friedlichsten Zwecken, die je die Welt gesehen hat, dienen sollten: der Verbindung von Volk zu Volk, von Kontinent zu Kontinent.

Zur Ordnung! Noch immer Vorkriegszeit. Irgendwo wartet die Stellung als Hoftheater-Intendant. Man macht Studien, spielt Dramaturg und Bühnenverleger. Praktische Erfahrungen? Man statiert. Der Name: Regievolontär. Eine flüchtige Episode: Gerhart Hauptmann inszeniert Schillers „Tell". Die Namen großer Toten steigen auf. Mein alter Freund, einer der intimsten des künstlerisch be­wegten elterlichen Hauses: Emanuel Reicher. Nach Wan­derfahrten aus Amerika zurückgekehrt, vor wenigen Jahren zur letzten Ruhe gegangen. Er spielt den Geßler. Irgendwo wehende Standarten, Pappwälder, künstlich aufgeschichtete Hügel. Die Rütli-Szene und der Apfelschuß. Der Dichter führt Regie, der darstellende Künstler folgt widerstrebend. Der Beobachter notiert im Hirn: „Neues Wollen bleibt gefährlich." Melchthal stürzt bei der Generalprobe in höch­ster Ekstase vom Berge. Vierundzwanzig Stunden später wäre es ein ungewollter Lacherfolg. Das Schicksal ist gnä­dig, die Probe wird um drei Uhr nachts abgebrochen. Hauptmann erklärt, „es müßte alles anders gebracht wer­den, mehr ..." Der Dichter ist sprachlos, er ringt nach Worten. Der Chor weiß, was er in solchen Fällen zu sagen pflegt, und brüllt ihm einstimmig entgegen: „Elementar". Brausender Applaus der spärlichen zu dieser Probe zuge­lassenen Zuschauer. 15 Jahre! Und dazwischen wieder das Propellergeräusch.

Flugtag in Johannisthal. Von uns veranstaltet. Drei bis vier Leute, angehende Ärzte und junge Seeoffiziere und ich selbst. Schlecht gebügelte Zylinder, wehende schwarze Röcke, riesenhafte Ferngläser. Hallo auf der ganzen Linie! „Seid ihr irrsinnig geworden?" Wir markieren Flug-Meeting. Gab es das damals? Kaum, wir kreierten neue Moden, über­trugen Rennplatzmanieren auf das junge Flugfeld. Wurden von erzürnten und lachenden Kameraden und Freunden beinahe verhauen und sollten Alkohol bezahlen. Wer hatte damals Geld? Wir nicht. Der alte Major v. Hünefeld mußte am 1. August 1914 seinem Sohn dreihundert Mark geben, damit die Uhrkette, dazugehörige Taschenuhr, Kra­wattennadeln und Wappenring aus dem Pfandhaus geholt werden konnten. Auch war Herr Hahn, der Oberkellner des Cafe Größenwahn, zu befriedigen. Wer wußte, ob wir die nächsten Tage lebten. Klare Bahn zuvor!

Meister Schöne und Giovanni, kanntet Ihr schon die Propeller? Kaum. Die leidenschaftliche Liebe zum Sports­kampf habt Ihr in dem Dreizehnjährigen zuerst in geregelte Bahnen geführt. Die beiden nur durch zwei Jahre im Alter getrennten Brüder kreuzten die Florettklingen. War unser Vater nicht einer der Miterwecker neuen sportlichen Lebens als Vorstandsmitglied des Deutschen Reichsausschusses für olympische Spiele? Athen 1906, ein verheißungsvoller Auftakt. Das nächste olympische Ringen soll uns selbst als Florettfechter willkommen sein. Training und Arbeit. Tückisch schleicht die Krankheit heran. Wochen und Mo­nate vergehen: Der Fünfzehnjährige scheidet mit angegriffe­ner Niere und kaputtem Herzen zwangsläufig aus dem Sportsleben aus. Wer kann der Liebe gebieten? Die Sehn­sucht bleibt. Praxis! Die Luft ist frei und die Zeit, da ärztliche Warnung beachtet wird, vorüber. Nächtliche Stun­den in den überfüllten Kaffeehäusern — schäumende Gläser besiegeln den Bund: Wir fliegen! Morgen für Morgen in Johannisthal. Der Schlaf der Nächte? Wer jung ist, braucht keinen Schlaf, und die Arbeit des Tages — wozu gibt es Zigaretten. Sie halten wach.

Gedanken an frühere Jugendtage kommen. Da ist der gute Pfarrer Höhne! Du, einer der besten und werktätigsten Christen, der du 31/2 Jahre als Hauslehrer die Studien der Brüder Hünefeld nicht ohne Mühe leitetest, was ist aus deinem alten Schützling geworden? Sei unbesorgt! Der Geist Goethes, den du als einen der größten deutschen Men­schen leidenschaftlich verehrtest, dessen Bedeutung du den Kindern schon klar zu machen wußtest, bleibt auch dem Sports-Bohemiar verehrungswürdig. Sprach Goethe nicht den Leitspruch auch meines Lebens: „Denn ich bin ein Mensch gewesen, und das heißt ein Kämpfer sein!" Wir lieben den Kampf. Und des Kampfes willen? Vielleicht! Nur der reife Mensch sieht klar das Ziel seines Streites. Die Jugend will fechten. Unklare Ideale, aber doch Ideale! Wer sind sie im verrufenen Zimmer des Cafes Senflieben, Johannisthals Fliegertreffpunkt in den Nächten, die großen Namen, die Brüder Jeanin, Leitsch, Hans, Reiterer, wie sie auch alle heißen; hier wurde um ein sportliches Ziel ge­kämpft. Beim Klange der Gläser? Dann am meisten. Dann fielen die Schranken der Nationalität. Wir hatten e i n Ziel: Die Eroberung der Luft!

Zurück zum Tage! Das großelterliche Gut im fernen Masuren verkauft, das Gut des Vaters denselben Weg gegan­gen. Die eigene Scholle im beschränkten Umfang erst 1903 in der Nähe Berlins wieder erworben. Ein Villengrund­stück, nun das Heim meiner Mutter, seitdem mein Vater drei Tage vor dem ersten Versuch der Ozean-Überquerung jäh einem Herzschlag erlag. Dieses bleibt der Schatten auch in den Tagen des Erfolges. Er, der als alter Soldat so stolz in den Augusttagen des Jahres 1927 in die Zukunft sah und sich über das bevorstehende Wagnis von Herzen freute, weil er fest an den Erfolg glaubte, hat die vollbrachte Tat nicht mehr erleben dürfen. Frohe Tage der Kindheit tau­chen auf. Die zarte, stets mit der Krankheit kämpfende Mutter — dies Erbteil blieb dem jüngsten Sohn — und das elterliche Haus ein Sammelplatz geistiger Kreise. Die Be­wirtung einfach, die künstlerischen und geistigen Genüsse auf hoher Stufe. So wuchsen die beiden einzigen Söhne, mein älterer Bruder und ich, auf. Als Studenten saßen wir später im vierten Rang des Königlichen Opernhauses, sooft der Geldbeutel und die Zeit es erlaubten.

Ich denke an die ersten militärischen Übungen in frü­her Jugend. Dem ehemaligen Gendarmerie-Oberwacht­meister und Magistratssekretär der Stadt Berlin, Paul Eig­ner, ging das Herz auf, als wir vor wenigen Jahren über den ersten Drill sprachen, den er uns Brüdern auf Wunsch meines Vaters beibrachte. Langsamer Schritt, Präsentie­ren, Marschieren wechselte mit Turnen ab, das Schießen nicht zu vergessen. Irgend etwas blieb für das ganze Leben haften. „Körperliche Disziplin schafft geistige Disziplin." Diesen Satz als Leitspruch eines Lebens halte ich für richtig. Andere mögen anderer Ansicht sein.

Kinderland, Wunderland. — Leise klingt in diese Er­innerung die Stimme meiner Mutter, die uns abends biblische Geschichte vorliest, mit Andersens und Grimmschen Mär­chen wechselnd. Später: Die deutschen Heldensagen. Aus der Dämmerung steigt Parsivals Schloß Montsalvat auf, Elsa von Brabanis Hilferuf klingt zum Abendhimmel, und das Kreuz Christi wird zum überragenden Wahrzeichen des gläubigen Martyriums. Hagen und Siegfried sind lebendig geworden und ein seltsames Ding: Hagen ist mir von der Kindheit an eine der liebenswertesten Persönlichkeiten der Heldensage und Geschichte geblieben. Verwandte Züge? Es mag sein. Die Lichtgestalt Siegfrieds umfließt zuviel Sonne. Hagen war Kämpfer. Der andere ging mühelos von Sieg zu Sieg. Und Hagen, der Häßliche, Mil3gestaltete, war treu. Siegfried verläßt Brunhild und vergißt ihrer in den Armen Kriemhilds. Hagen, der Gefolgsmann seines Königs, er­schlägt den Gott des Lichtes. Warum? Später, sehr viel später erst, habe ich in meinem Einakter „Hagen" die Lö­sung zu finden geglaubt:

„Zuviel des Lichtes trübt den klaren Blick, Und ein geblendet Auge sieht nicht klar. Ich hab' der Welt den klaren Blick geschenkt, Den sie verloren; das war meine Tat!"

Hagen, am Vorabend seines Unterganges, schleudert diese Erklärung Kriemhild ins Gesicht.

Bunt reiht sich Jahr an Jahr. Die erste Kriegszeit macht mich zum Krüppel. Jahrelang an Stöcken gehend, Operation über Operation des großen Chirurgen Lexer. Die letzte vor zwei Jahren, die mir die gleiche Länge beider Beine, die ich verloren hatte, und völlige Bewegungsfrei­heit zurückschenkt. Der Privat-Assistent Geheimrat Biers, Dr. Krieger, trotz seiner jungen Jahre einer der ältesten und treuesten Freunde schon meines Elternhauses, entfernt aus dem linken Bein zwei Zentimeter Knochen, gibt ihm die natürliche Lage zurück, und kein Mensch sieht mir die Schrapnellkugeln mehr an, die beide Beine zerschmettert und verstümmelt haben. Irgendwo wittert eine Wolke von Chloroform und Äther. Die elfte Operation meines Lebens versucht die letzte Kriegsfolge zu beseitigen. Professor Groß in Bremen entfernt im Herbst 1926 den dritten Teil meines Magens.

Wie blieb mir Zeit zur Heirat, und ich bin trotzdem verheiratet! Ich lebe sogar in einer Doppelehe, ja, wenn ich es richtig betrachte, habe ich drei Frauen, und ich bin trotzdem nicht Türke oder Mormone. Meine erste Liebe war meine Feder. Ich bin ihr treu geblieben. Die Zahl meiner "unsterblichen Werke" aufzuführen, würde zu weit gehen. Gedichte, Dramen sind in Deutschland erschienen. Der willige Leser kann sie käuflich erwerben. Gute Freunde, wie Köhl, behaupten, sie hätten niemals bessere Schlafmittel finden können. Meine politischen Artikel und Hefte gehören schon meiner zweiten Ehe, der Politik, an. Ein gefährliches Thema, und doch muß es erwähnt werden. Wenn ich in den begeisterten Tagen der amerikanischen Rundreise wieder und wieder betont habe, daß nur der Patriot den Patrioten verstehen kann, und daß nur derjenige, der mit ganzer Seele und mit ganzem Herzen die eigene Heimat liebt, Respekt und Achtung anderen Nationen und Ländern entgegen­bringen und so zu einem die Völker verbindenden guten Willen kommen kann, so entspricht diese These meiner Lebensauffassung. Ich habe lang und hart im politischen Kampfe gestanden und würde niemals die Feigheit besitzen, das zu verleugnen.

Meine dritte Frau, die unglücklichste Liebe meines Lebens, ist die Fliegerei! Ich erwähne dies kurz: Meine Augen, die kaum stereoskopisch zu sehen vermögen, über­schätzen oder unterschätzen Distanzen. Der Kronprinz, mit dem ich zwei Jahre in Wieringen verbrachte, beschwerte sich neulich, ich habe bei meinem letzten Besuch in Öls kein Glas zerbrochen und keinen Wein verschüttet. Er behauptet, ein Besuch, den ich machte, ohne derartige Ungeschicklich­keiten zu begehen, wäre überhaupt kein Besuch. Er mag recht haben, aber ich glaube, ich bin in diesen Tagen nicht dazu gekommen, mir selber etwas einzuschenken. Man muß seine eigenen Schwächen kennen. Eine von mir ausgeführte Landung könnte nur durch Zufall glücken. — Doch liebe ich diese dritte Frau, vielleicht gerade, weil sie sich so schwer erringen läßt, mit derselben Inbrunst, wenn nicht mehr, wie die beiden anderen.

Zersplitterung? Welches Leben wäre nicht zersplittert! Die einfache und gerade Linie enthält mehr Kurven im Spiegel des Mikroskops als der Fernstehende ahnt. Ich werde philosophisch. Vielleicht würden meine Professoren in Berlin, bei denen ich vor Jahr und Tag philosophische Kollegs hörte, erfreut sein, daß ihre rastlosen Bemühungen doch nicht ganz vergeblich waren. Zum Promovieren fehlte mir Zeit und Lust! Aber das gehört kaum hierher.

Die Eindrücke des Krieges fangen an zu verblassen. Für uns, die wir damals den ersten Reiz der Jugend gekostet hatten, bleiben die Jahre von 1914-1918 unerhörte Stunden des Erlebens. Die Welt ging weiter. Mir bleibt die unge­heure Sorge, daß auch die letzten Haupthaare langsam ver­schwinden. Kurz: Die Schwelle des Greisenalters liegt vor mir. Kein Wunder, daß der Blick zurückschweift und nur in die Ferne geht, wenn neue Kämpfe und Abenteuer lockend bevorstehen. So will ich denn diesen Absatz unseres ge­meinsamen Buches mit wenigen Erinnerungen beschließen.

Verhältnismäßig früh bin ich in Berührung mit vielen Persönlichkeiten gekommen, deren Name geschichtlich ge­worden ist, oder es schon damals war.

Wer kannte 1914 den „Seeteufel"? Seine Taten lagen noch in der Verborgenheit der Zukunft. Er war schlicht und einfach der Oberleutnant z. S. Graf Luckner. Aber schon damals als Original berühmt. Entsinnst du dich noch der gemeinsamen Tage im Hamburger Marinelazarett? Der Wunsch zum aktiven Handeln trieb dich zur fast über­flüssigen Operation. War Geheimrat Lexer nicht unser menschlich verstehender Vater, der auch diesem Wunsche willig folgte? Morgens um 8 Uhr die Blinddarmoperation. Nachmittags um 4 Uhr die Shagpfeife rauchend an meinem Bett sitzend. Die Haltung noch leicht gekrümmt, die frische Operationswunde mußte geschont werden! Kein Schelten half. Eisern blieb er an meinem Bett sitzen, bis es abends spät der Schwester gelang, den Widerstrebenden ins Bett zu schicken. Sonnige Tage voll Frohsinns trotz aller Schmerzen im kleinen Offiziershaus des Marinelaza­retts, dessen ursprünglicher Zweck die Beherbergung der Auswanderer der Hamburg-Amerika-Linie war. Haben Schwester Elise und ich dir nicht später den in Spiritus wohlkonservierten Blinddarm nachgesandt? Wenn du diese Zeilen lesen solltest, erinnere dich des alten Kriegs­kameraden!

Unvergeßlich die Jahre auf der Insel der Verbannung in Wieringen. Das Gewitter hatte eingeschlagen, der Blitz gezündet. Mit dem Mann, der früher berufen zu sein schien, die deutsche Kaiserkrone zu tragen, habe ich die ersten Jahre zusammen leben dürfen, die ihn von der Heimat fern hiel­ten. Kein Wort der Politik! Aber menschlich betrachtet: Jahre unvergeßlichen Erlebens. Das Beste aus dem zu machen, was das Schicksal beschied, wurde ihm auch in diesen Jahren Leitgedanke. Nie eine Klage oder Anklage, trotz primitivster Verhältnisse. Man stelle sich zwei bis drei kleine Zimmer in einem Häuschen vor, das des einfachsten Komforts entbehrt. Dicker Nebel Tag und Nacht vor den Fenstern. Durch die Türspalten und schlecht schließenden Fenster dringt dieser ungebetene Gast in die Räume. Die ersten Wochen werden zum größten Teil, um Schutz vor der Kälte zu suchen, in feuchten Betten verbracht. Holland hat keine Kohle, hat kein Petroleum mehr, um Lampen und Öl zu unterhalten. Nachkriegszeit! Schreiben und Lesen un­sere Beschäftigung. Und abendliche Gespräche. Es ist später bekannt geworden, wie sich diese fünf Jahre abgespielt haben. Kein Wort mehr davon! Geblieben ist die Erinne­rung und die hingebende Freundschaft.

Stunden in Amerongen und Doorn haben hier keinen Platz. Sie im Herzen zu übergehen, ist unmöglich.

Der erste Besuch in Sofia. Man schrieb 1916. Das Aus­wärtige Amt unterstützt deutsche Kunst. Mein Freund, der Kammersänger und Professor Carl Clewing, in Gemeinschaft mit dem Ministerialdirektor Geh.-Rat Schüler, sind die An­sager. Hünefeld, der schwer zusammengeschossen für seine Prolektorin, die verstorbene Herzogin von Meiningen, Schwester des Kaisers, bei der Fürsorge für augenleidende Krieger tätig ist, wird mitgesandt, um die amtlichen Dinge abzutasten und zu regeln. Schwierigkeiten lokaler Natur müssen überwunden werden und werden überwunden. Schwieriger das Zusammensein mit den Künstlern. Die Nerven dominieren, jeder einzelne Musiker fühlt sich irgend­wie verletzt. Warum, weiß kein Mensch. Der Betreffende selbst eine halbe Stunde darauf am wenigsten. Also schreit man sich gegenseitig an, damit die Nerven entlastet werden und die Musik am Abend gut geht. Professor Karl Straube, Thomas-Kantor in Leipzig, sitzt am Klavier und begleitet Emmy Leisner. In der Hofloge höre ich die Worte: „Sieh nur, wie er den Flügel küßt." Nie war ein Ausdruck für künstlerische Leistung prägnanter als dieser. Und König Ferdinand I.! Privat-Audienz; Carl Clewing singt alte Volkslieder. Einer der größten Gelehrten und Kunstkenner, der seinen Thron in Mühe und Arbeit selbst gezimmert hat, lauscht, fragt, gibt Anregungen und beschämt, ohne daß er es will, jeden Einzelnen von uns durch sein überragendes Wissen und Können. Nie habe ich ein menschliches Gehirn gleich diesem gesehen, und hinter diesem Gehirn steht das Herz! Die Geschichte wird urteilen.

Die letzten Jahre des türkischen Sultanats! Noch lebt Abdul Hamid. Irgendwo in fernen Schlössern führt er ein angstgehetztes Leben; der Verfolgungswahn seiner letzten Regierungsjahre hat sich nach dem Sturz ins Unermeßliche gesteigert. Sein Bruder Mehmed V. sitzt auf dem Thron der Kalifen. Sieben Jahre sind vergangen, seit er aus der Ver­bannung geholt ist, der jetzt sein Bruder anheimgefallen ist. Systematische Abschnürung vom Leben hat ihn abgestumpft für das Dasein selbst. Gutmütigkeit in seinem Blick, wesens­fremd seine Sprache und Gebaren. Der Oberzeremonien­meister teilt in charmantem Französisch mit bezauberndem Lächeln mit: „Seine Majestät haben geruht zu äußern . . ." Was Seine Majestät angeblich geäußert haben, ist meistens etwas sehr Lobendes und Liebenswürdiges. Ich kann mich des Verdachtes nicht erwehren, daß diese Liebenswürdigkeit mehr dem gewandten Hofmann zuzuschreiben ist, als dem Herrscher selbst. Marmorsäle und herrliche Teppiche, der Yildiz-Kiosk der alten Residenz dienen jetzt profaneren Zwecken. Vergangene Pracht am Bosporus! Der Orient be­gann schon in den Zeiten meines ersten und letzten Besuches dem Okzident gefährlich ähnlich zu werden. Die Moscheen der tanzenden Derwische sind nicht mehr Tempel, sondern gleichen modernen Kinos. Die Leute tun ihre Pflicht, nicht aus religiösen Gründen, sondern um des Geldes willen. Der Orient ist versunken, Konstantinopel nicht mehr Hauptstadt der Türkei.

Das alte Europa hat sich gewandelt. Bewegte Jahre in Deutschland zwingen zu neuer Arbeit. Wer gedenkt noch der Inflation? Waren wurden gekauft und verkauft, ohne daß man sie zu sehen bekam. Die Grenzen waren bewacht, aber Waren und Geld flog heraus. Die Not der Zeit erzog zur Unehrlichkeit. Organisationen versuchten die Ordnung des Wirtschaftslebens aufrecht zu erhalten. Sie brachen wie alle widernatürlichen Dinge zusammen. Ich selbst bin zwei Jahre lang tätig und versuche widerrechtlich ausgeführte oder eingeschmuggelte Waren im Interesse des Rei­ches zu erfassen und zu verwerten. Nicht mehr Beamter und doch im öffentlichen Dienst tätig, komme ich als Lei-

ter der „Verwertungsstelle der Reichs-Finanz-Verwaltung" nach Bremen. Meine alte Freundschaft mit dem König der Kaffee-H. A. G., Ludwig Roselius, gibt mir privat schöne Stunden. Ich entdecke Möbelwagen, die als Umzugsgut über die Grenze gehen sollen, und Marmorkreuze, die Milliarden von Werten in Papiermark enthalten. Wie gesagt, die Not zwingt zur Unehrlichkeit und läßt schlechte Elemente an die Oherfläche kommen.

Langsam tritt eine Besserung ein, die Mark wird stabili­siert und die deutsche Schiffahrt beginnt sich wieder zu regen. Im Jahre 1923 trete ich als Syndikus zum Norddeutschen Lloyd über und kann von dieser Stelle aus den Aufbau der Wirtschaft besser beobachten als zuvor. Die drei Frauen gehen mit mir, sie bleiben mir treu, wie ich ihnen. Meine freie Zeit wird von ihnen beschlagnahmt und eines Tages ist das Ozean-Flug-Projekt spruchreif. Mein Leben schließt damit nicht ab. Oder vielleicht doch? In die Zukunft kann niemand schauen. Mein bisheriges Leben hatte Inhalt. Was werden die nächsten Jahre bringen?

Es besteht die nicht unwahrscheinliche Möglichkeit, daß sich Leser, die meinen Gedanken nicht zu folgen vermögen, im Unklaren sind, wie sich mein Leben abgespielt hat. Ich gebe für die wenigen Interessenten nachstehend eine kurze Tabelle:

Geboren 1. Mai 1892 zu Königsberg i. Pr.

Schule: Gymnasium Steglitz b. Berlin.

Ab 1911 Studium an der Universität Berlin (Philosophie und Literatur).

Schriftstellerisch tätig vom gleichen Zeitpunkt ab.

1914: schwer verwundet vor Antwerpen.

1916: Frühling, amtliche Aufträge in Sofia und Kon­stantinopel.

1916: Herbst, Kaiserlich Deutscher Vizekonsul in Maastricht (Holland).

1918: November, Abschied aus dem Reichsdienst.

Bis 1920 in Wieringen.

Ab 1921 Leiter der Verwertungsstelle der Finanz-Ver­waltung in Bremen.

Ab Frühling 1923 Syndikus des Norddeutschen Lloyd in Bremen. Daneben Fliegerei. Schriftstellerische und politische Tätigkeiten.

Zukunft: Besorgniserregend, da zu extravaganten Sachen jederzeit geneigt.

Heirat und Todesjahr noch unbestimmt.

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