GEFANGEN

 

„Halte-la´!“—ein Posten. Herrgott, der spricht ja deutsch, fuhr es mir durch den Sinn. Ich hatte „Halt! Wer da ?" verstanden, aber schnell wurde es mir klar, daßes doch ein französischer Anruf gewesen war. Das Gewehr schräg vorwärts gesenkt, das blitzende Bajonett darauf, kam er auf uns zu. Die Situation schien brenzlich, doch wir gaben uns noch nicht verloren.

„Captain Cook", rief ich ihm über Schlenstedts Schulter hinweg zu und hoffte, daßer uns für englische Offiziere halten würde. Aber auch das half nichts. Er versperrte uns den Weg und nahm uns fest. Irgendwie mußten wir ihm verdächtig erschienen sein, und das Französisch, mit dem er auf uns einredete, war so stark von deutschen Brocken durchsetzt, daßwir merkten: der hat Lunte gerochen.

Unsere Flucht schien beendet. Oder gab es doch noch einen Ausweg ? Wir konnten zwar

über ihn herfallen, aber das würde sicher die ganze Nachbarschaft alarmieren. Nur kurze Sekunden blieben zur Überlegung, die mich doch zu dem Entschlußbrachten, weiter den Engländer zu spielen. Ich tat recht aufgebracht und trat recht forsch auf das Tor zu, auf das er uns wies. Es befand sich in einer Mauer, die einen Vorhof umschloß, auf dem erst der eigentliche Hauseingang lag. Mit einem Blick hatte ich die Situation erfaßt. Immer noch englischklingend sollenden Unsinn redend, machte ich eine Bewegung, als wüßte ich nicht weiter und gab dem Posten zu verstehen, er solle vorausgehen, um uns den Weg zu zeigen.

Vielleicht dachte der Mann, daßwir wirklich Engländer waren, die er nicht allzu offensichtlich als Gefangene behandeln durfte, jedenfalls, er folgte meiner Aufforderung, nahm sein Bajonett etwas herunter und stand im Begriff, durch das Tor zu schreiten. In dieser Sekunde versetzte ich ihm einen Stoß, er stolperte, schlug der Länge nach hin, ich gab Schlenstedt einen Wink, und dann rißich aus, während er nach der anderen Seite zu entkommen versuchte.

Laufen, nur laufen und immer wieder laufen ... etwas anderes gab es jetzt nicht. Noch war es still hinter mir. Der Posten mußte sich offenbar erst von seinem Schreck erholen. Eine Wegegabel —rechts oder links ? Ich entschied mich für links, um nicht noch einmal in die Stadt hineinzugeraten. Da mir zwei Soldaten entgegenkamen, mußte ich langsamer gehen. Sie riefen mich an, aber ich verstand sie nicht. Es schienen Engländer zu sein. Wieder fragten sie. „Gare Gare" —also suchten sie den Bahnhof. Ich wies mit der Hand in der entgegengesetzten Richtung, in der ich weiterlaufen wollte und sagte: „Directement !" Das schienen sie zu kapieren und gingen weiter.

Hinter mir wurde es nun lebendig. Die Meute der Verfolger war mobil gemacht und fahndete nach den Ausreißern. Da es aufgefallen wäre, wenn ich durch die stillen Straßen rannte, verschwand ich in einem Garten, der neben einem Hause lag. Niemand hatte mich hineinschlüpfen sehen. Ich wollte danach trachten, so schnell wie möglich auf die Felder hinauszukommen. Die Häscher hatte ich wohl hinter mir gelassen, aber ich mußte doch die Straße wieder erreichen,

um an die Front zu gelangen. Mehr kriechend als laufend schlug ich einen großen Bogen und kam außerhalb der Vorstadt an die große Straße, die ich überschreiten mußte, um über den hohen Bahndamm hinweg hinunter an den Oise-Kanal zu kommen.

Da die Franzosen wußten, daßich nördlich des Kanals war, hielt ich es für besser, hinüberzuschwimmen und meinen Marsch weiter südlich fortzusetzen. Dort boten auch die weiten Wälder, die Compiegne vorgelagert sind, einen besseren Schutz. Als ich gerade über die Straße hinwegwollte, kam eine Radfahrerpatrouille auf mich zu. Auch hier fahndete man also nach mir. Fast glaubten sie schon, mich zu haben, hielten an und waren im Begriff, von ihren Rädern zu steigen, da stießich den einen vom Rade herunter, war wie der Wind im Feld verschwunden und erklomm den nahen Bahndamm. Seltsamerweise liefen sie mir weder nach, noch schossen sie hinter mir her.

Peinlich nur, daßsie im Mondschein meine Silhouette auf der Höhe des Dammes sehen mußten. Darum versuchte ich, sie zu täuschen. Ich machte auf dem Damm oben ein paar Sprünge, rannte aber nicht auf der anderen Seite hinunter, wie sie annehmen mußten, sondern ließmich langsam in den Mondschatten gleiten und blieb diesseits der Bahn. Von der Straße sah es aber so aus, als sei ich drüben verschwunden.

Ich hatte richtig gerechnet. Während ich mich vorsichtig hinunter in das Feld arbeitete, verschwanden die Radfahrer in schnellstem Tempo. Sie wollten mir durch eine Umgehung den Weg abschneiden. Ungeheuer vorsichtig schlich ich zur Straße zurück, huschte gebückt über sie hinweg und lag wenige Sekunden später wohlgeborgen im anderen Feld, als schon wieder eine Radfahrerpatrouille vorbeikam, die sich aber nicht umsah, sondern lautlos vorüberraste. Da wußte ich sicher, daßich die Franzosen mit Erfolg irregeführt hatte.

Noch etwa 500 Meter kroch ich bäuchlings nach Norden und bog dann ab. Hier hielt mich ein Bach auf, der leider nicht zu überspringen war. Das Wasser ging mir bis an die Brust, als ich durchwatete. Meine Verfolger war ich nun endgültig los und durfte mir ein paar Minuten Rast gönnen. Vor mir erhob sich ein recht beträchtlicher Höhenzug, an dessen Südrand Scheinwerfer blitzten und Abwehrbatterien feuerten. über diese Höhe mußte ich hinweg.

Sehr vorsichtig geworden, wanderte ich auf einem Feldweg hinauf. Vom Kamm hatte ich eine herrliche Aussicht. Aus den Nebelschleiern, die über das Land gebreitet lagen, guckten die Türme und Hausdächer von Compiegne heraus. Darüber hinweg brummten unsere Bombenmaschinen, die aus Paris zurückkamen. Wild krachten die Geschütze. Ein paar Sekunden lang konnte man die Flugzeuge am dunklen Nachthimmel sehen, dann hatte die Nacht sie verschluckt, und auch die Batterien schwiegen wieder.

Stimmen drangen an mein Ohr. Hier auf der Höhe lagen ebenfalls Fliegerabwehrkanonen in Stellung. Wieder schlug ich einen weiten Bogen; das Terrain wurde abschüssig, und ehe ich es mich versah, war ich mitten in einer Ortschaft, in der schon Leben herrschte. Als ich eine mit hohem Gras bestandene Wiese fand, legte ich mich hinein. Sie lag ganz in der Nähe eines Gehöftes. Nah meinen Berechnungen mußte ich kurz hinter Compiegne in Richtung auf die Front sein. Trotz des großen Marsches war ich kaum 5 Kilometer in dieser bewegten Nacht vorwärtsgekommen.

Ich beschloß, den Tag hier zu verbringen, aber als es vollends hell geworden war, mußte ich feststellen, daßmeine Wiese ringsherum von Gehöften umgeben war. Dieser Tag wurde noch fürchterlicher als der erste. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war für einen einzelnen zwar nicht so großwie für zwei, aber Durst und Hunger lassen sich schwerer ertragen, wenn man ganz allein ist. Diesmal lag ich aber auch in keinem Feld. Hier gab es keine Ähren, deren unreife Körner ich essen konnte, und die Wiesenblumen, die ich herunterzuwürgen versuchte, schmeckten abscheulich. Gegen Mittag, als die Luft rein schien, schlich ich zu einem naheliegenden Gemüsegarten, wo hinter einem Drahtzaun junger Salat wuchs.

Gut schmeckten die noch kleinen Blätter ohne Essig und Öl auch nicht, aber sie stillten den Hunger.

Kaum war ich jedoch zurückgekrochen, trottete ein großer Hund heran, schnupperte überall herum, witterte mich jedoch nicht. Im Laufe des Tages kam er noch ein paarmal an mir vorbeimarschiert, ohne mich zu bemerken. Auch ein Soldat lustwandelte im Garten. Von der nahen Straße herüber dröhnten die Langrohrgeschütze, die zur Front gebracht wurden, Pferdegetrappel und die Tritte der Patrouillen, die die Gegend absuchten. So erwartete ich die dritte Nacht.

Hunger und Durst peinigten mich unsagbar, und ich wäre sicher zusammengebrochen, wäre ich nicht davon überzeugt gewesen, am nächsten Tag an die vorderste Linie heranzukommen und am übernächsten Morgen schon wieder bei meinen Kameraden zu sein. Solange mußte ich eben durchhalten. Als es schließlich doch zu dämmern begann und die Nacht sich herniederneigte, kroch ich vorsichtig aus meinem Versteck, überschritt die gefährliche Straße, auf der auch zur Nachtzeit reges Leben herrschte. Dann ging es immer parallel mit ihr durch Kornfelder hindurch, über Seitenwege und Gräben. Kamen einzelne Soldaten oder ganze Kolonnen ganz nahe an mir vorbei, warf ich mich hin und verhielt den Atem, bis sie vorüber waren.

Die tiefe Ruhe eines dichten Waldes nahm mich auf. Hier fand ich einen Bach voll köstlichen, klaren Wassers, warf mich auf den Bauch und ließdas lange entbehrte Naßregelrecht in mich hineinlaufen. Diese Nacht verging im großen und ganzen ohne jeden Zwischenfall. Ich mußte schon ganz nahe an der Front sein und wollte über die große Straße hinweg hinunter an die Oise. Als ich die Straße überschritt, wäre ich fast von einem abgeblendeten Lastwagen überfahren worden, der in rasender Fahrt daherkam. Während ich neben dem breiten Weg herlief, passierte Wagen auf Wagen und alle fuhren sie in der einen Richtung —zur Front.

Je näher ich dem ersehnten Ziel kam, desto aufmerksamer wurde ich. Keine Ungeschicklichkeit sollte mich um die Früchte der peinvollen Tage bringen, die ich durchlebt hatte. Ich wandte mich nach Süden, kam an einem Haus vorüber, es ging hinunter ins Tal. Ganz nahe an eine hohe Steinwand drängte sich der Flußund verengte die Straße zu einem Engpaß, der durch ein Drahthindernis geschützt war. Zogen sich hier schon die Linien entlang ?

Im Mondenschimmer konnte ich deutlich wahrnehmen, daßsich durch das Gewirr der Drahthindernisse ein Weg wand. Dort konnte ich wohl kaum durch, denn wenn diese Stellungen besetzt waren, würde ich am Morgen, der nicht sehr fern war, dem Feind in die Hände laufen. Ich machte kehrt, stieg den Engpaßwieder hinan und kam an das Haus, das ich vorhin schon gesehen hatte. Jetzt fiel aus einem seiner Fenster ein Lichtschein.

Bis auf wenige Meter war ich bereits heran, als sich die Tür öffnete. Ich erstarrte zu einer Säule und blieb mucksmäuschenstill stehen. Da stand ein französischer Offizier, ein Militärarzt oder ein Zahlmeister; vielleicht hatte er ein Geräusch gehört, war argwöhnisch geworden und wollte nun Ausschau halten. Aber bald verschwand er wieder, ohne mich gesehen zu haben, obwohl er so nahe an mir vorbeigekommen war, daßich den Rauch seiner Zigarette gerochen hatte.

Da es sehr schnell hell wurde, verkroch ich mich in einem Getreidefeld, das nahe bei dem Hause lag, und bereitete mich für den kommenden Tag vor. Aus Halmen machte ich mir ein weiches Lager und schlief darauf, bis es heller Tag war. Nun konnte ich mich umsehen, und zu meiner Überraschung mußte ich feststellen, daßich wiederum mitten in eine kleine Ortschaft geraten war. Ich lag zwischen zwei Gehöften, einem großen Gutshof und jenem kleinen Häuschen, aus dem der Franzose herausgetreten war.

Das Wetter hatte sich erheblich verschlechtert. Weißliche Wolken trieben am Himmel. Ich fröstelte stark in meinem Versteck. Wieder vertrieb ich mir die Zeit dajnit, aus den Ähren die Körner anszulesen, und war glücklich, wenn ich nach einer Stunde eine halbe Handvoll in den Mund schieben konnte. In der Nähe am Feldrand stand ein dichtbelaubter hoher Baum. An ihn arbeitete ich mich vorsichtig heran und stieg hinauf. Da ich fürchtete, in der luftigen Höhe einzuschlafen —ich war ja fast kraftlos von den übermenschlichen Anstrengungen der letzten Tage und Nächte —band ich mich an einem Ast fest, um nicht herunterzustürzen.

Von hier oben hatte ich einen herrlichen Überblick, ohne selbst gesehen werden zu können. Um die Mittagszeit klangen auf dem Gutshof die Hörner, und ich sah, wie die Mannschaften antraten, um von der Feldküche ihr Mittagessen zu empfangen. Niemand, der es nicht selbst erlebte, wird meine Qualen begreifen. Wie gern wäre ich hinübergelaufen und hätte meine Hände hingehalten und um etwas zu essen gebeten. Am Nachmittag wurde frisches Weißbrot ausgegeben, dessen Duft verführerisch bis zu mir in die Baumkrone hinaufdrang. Was hätte ich darum gegeben, so ein Stück Brot zu bekommen Ich überlegte bereits, wo ich mir nachts wohl am besten etwas Eßbares rauben könnte. Aber die Aussichten waren nicht sehr groß, denn überall waren Posten aufgestellt.

Überhaupt wurde es jetzt viel zu gefährlich, Ortschaften zu berühren. Die Gegend war überaus scharf bewacht, und ich wußte ja, daßman Steckbriefe hinter mir hergeschickt hatte.

Schlenstedt, der sicher noch in Compiägne gefaßt worden war, hatte es bestimmt nicht ableugnen können, daßwir zu zweit gewesen waren. Außerdem brauchte er das auch gar nicht, denn wir hatten verabredet, was wir aussagen würden, sollte einer von uns gefangengenommen werden.

Leise begann es zu regnen. Rings um mich sammelten sich die Wassertropfen in den Blättern, die ich abstreifte und gierig trank. Wieder kam eine Nacht, heißherbeigesehnt. Sie sollte mir die endgültige Freiheit bringen. Geräuschlos glitt ich von meinem hohen Sitz hinunter und wandte mich ins Tal. Ich wollte den Flußschwimmend überqueren und auf der anderen Seite unsere Stellungen zu erreichen suchen. Lange lag ich unten am Ufer. Nichts rührte sich. Sollte alles verlassen sein? Ich stand auf. Der Weg, den ich gekommen war, war mit Draht versperrt. Ich hatte auch ein paar Gräben passiert, über die ich einfach hinwegsprang. Nun hörten die Hindernisse und Gräben plötzlich auf.

War ich durch ? Es ging an einer Eisenbahnlinie entlang. Nördlich von mir rollte der Kanonendonner, Maschinengewehre ratterten, es knallte auch hinter mir her. War hier das Niemandsland, jener unbesetzte Streifen, der zwischen den feindlichen Linien lag ? Ziemlich rasch lief ich, von Bahnschwelle zu Bahnschwelle springend, immer auf dem Geleise neben dem Flußentlang, kam an einen kleinen zerschossenen Bahnhof, ging weiter und fand einen Weg, der die Bahn kreuzte. Weit, ganz weit hinter mir auf den Höhen stiegen die bunten Leuchtkugeln auf. Dort also trafen sich die beiden Grabenreihen.

Eine unglaubliche Freude überkam mich. Nun war ich drüben, hatte es geschafft, war doch der gefürchteten und gehaßten Gefangenschaft trotz aller Fährnisse und Zwischenfälle entgangen. Im Osten kam der junge Tag herauf. Ich bog auf einen Weg ein, der von der Höhe herunterführte und in ein Dorf mündete. Da mußten unsere Truppen liegen. Als ich in der Morgendämmerung auf ein Gehöft kam und die Tür des Hauses öffnete, da stockte der Herzschlag. Ich sagte „Pardon !", als sei ich in ein fremdes Quartier geraten, und zog die Tür schnell hinter mir zu.

Himmelherrgottsakra ... das waren ja Amerikaner ! Ich ging weiter. Überall standen auf einmal Mannschaften und Offiziere. Wahrscheinlich waren sie gerade abgelöst worden und aus dem Graben zurückgekommen. Nun, jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als möglichst harmlos zu tun und weiterzumarschieren, solange ich Menschen sah. Rechts und links standen Drahthindernisse, und gleich darauf gelangte ich auch an einen Platz, wo ein breites Hindernis fast den ganzen Durchgang versperrte. Nur ein kleiner Zwischenraum war freigelassen worden, und dort stand breit aufgepflanzt ein Posten.

Ohne mit der Wimper zu zucken, ging ich an ihm vorbei. Niemand hielt mich an. Ich schien den Eindruck zu machen, als gehöre ich eben dazu. Es ging sanft bergan, Gräben mußten übersprungen und Hindernisse überwunden werden, ehe ich zu ein paar Bäumen gelangte, die zwischen Granattrichtern standen. Als ich mich einen Augenblick lang unbeobachtet glaubte, verschwand ich in einem dieser Trichter.

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